Wie der Mensch den Menschen entmenschlicht

Wittlich · Juden, Christen, Kommunisten, Deserteure, Querdenker, Regimekritiker, Priester, Lehrer: Alles Männer, Frauen, Kinder aus Wittlich und Umgebung, die zu Verfolgten und Opfern der NS-Diktatur geworden sind. Ihnen hat der Wittlicher Franz-Josef Schmit ein Buch gewidmet. Auf 300 Seiten zeichnet er ihre Schicksale nach und ist überzeugt: Erinnern stärkt die Demokratie.

 Franz-Josef Schmit spürt den Schicksalen Entrechteter nach. TV-Foto: Sonja Sünnen

Franz-Josef Schmit spürt den Schicksalen Entrechteter nach. TV-Foto: Sonja Sünnen

Foto: (m_wil )

Wittlich. "Mein Antrieb ist vielleicht, dass so ein Gespür entsteht, wo und wie die Dinge beginnen. Das Ende kennen wir alle. Aber wo ist der Anfang?" Das sagt Franz-Josef Schmit. Er sitzt im klaren Sonnenlicht im Garten. Auf dem Tisch liegt sein neues Buch. "Spätes Erinnern" so der Titel, und darunter: "Ein Lesebuch zu Verfolgten und Opfern der NS-Diktatur aus Wittlich und Umgebung." Es dokumentiert, wie aus Menschen "Staatsfeinde" wurden, Bürger andere Bürger einem unmenschlichen System und zum Teil damit dem Tod auslieferten. Es wirft viel Licht ins Dunkel des Schweigens, Vertuschens.
"Ich halte es dabei mit Ingeborg Bachmann", sagt der Autor und zitiert: "Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar." Die Wahrheit über Menschen, die nur wegen ihrer Religionszugehörigkeit, ihrer politischen oder persönlichen Haltung, ihrer Mitmenschlichkeit, ihrer Ablehnung des Kriegs und des Naziregimes diffamiert, denunziert, verschleppt, ermordet, vertrieben, beraubt, misshandelt, vollkommen entrechtet wurden.
Das ist erschreckend, teils schmerzlich. Schmit macht diese Schicksale konkret. Er spürt den Spuren der Menschen in Archiven nach, befragt Angehörige, sucht nach Zeugen, studiert Dokumente vom Brief über die Karte bis zum Gesetz, stöbert Fotos auf und ordnet, schreibt. Schreibt alles auf und gibt so den ehemals Entrechteten eine Stimme, erinnert an das, was ihnen widerfahren ist. "Hier ist zum Beispiel denunziert worden, das war die wahre Pracht", sagt er trocken, "aber das war ja überall so. Und man konnte sich an fünf Fingern ausrechnen, was mit den Denunzierten in der Diktatur passiert."
Franz-Josef Schmit hat diese Biografien, ihre unfassbaren Geschichten aufgezeichnet. Der Autor ist überzeugt: "Man muss den Sachen ins Auge blicken. Man muss die historischen Dinge sehen und nicht ausblenden, was irgendwie schwierig ist. Was Fakt ist, muss man auch benennen können. Ich glaube, dass die demokratische Gesellschaft diese Erinnerung braucht, um sich ihrer Werte zu vergewissern. Und es hat etwas mit der Würde der Opfer zu tun. Opfer, die sonst völlig anonym bleiben würden. Und wenn ich sehe, wie wichtig das für die Generation der Enkel ist, wie interessiert die an ihrer Familiengeschichte sind. Außerdem ist das ein schöner sinnvoller Ausgleich zum Beruf und bringt mir viele Kontakte."
Der Gesellschaft etwas zumuten



Und viel Arbeit, ehrenamtlich. Sie hat auch für den Lehrer für Deutsch und Ethik am hiesigen Cusanus-Gymnasium Grenzen: "Es gibt Sachen, die einen wirklich kaputtmachen. Ich habe begonnen, Akten über Euthanasieopfer zu studieren. Doch die habe ich dann ans Kreisarchiv weitergegeben. Das mute ich mir nicht zu." Sich und der Gesellschaft etwas zumuten, diese Haltung hat der 1954 geborene Saarländer ("Das hat den Vorteil, dass ich in Wittlich mit keinem verbandelt und unabhängig bin") von seinem Vater.
Schmit: "Er war Geschichtslehrer und hat uns nach dem Krieg die KZ-Gedenkstätten Flossenbürg und Dachau gezeigt. Und als ich in Griechenland war, habe ich mit 15 Jahren nicht nur alte Steine gesehen, sondern welche, die Unrechtsgeschichte der Verbrechen der Wehrmacht gegen Zivilisten und Partisanen erzählen." Sein Vater sei "richtig fromm" gewesen und habe sich sein "moralisches Sensorium" erhalten. "Der hat nicht vom Unternehmen Barbarossa geschwärmt, sondern vom Scheißkrieg erzählt."
Überhaupt das Erzählen, das Verschweigen. Unter Schmits nun in einem Band veröffentlichten biografischen Porträts findet sich das von Arthur Feiner (1907 bis 2000), der Wittlich als Heimat der Großeltern eng verbunden war. Er hat das Engagement des Arbeitskreises "Jüdische Gemeinde Wittlich", bei dem Schmit Mitarbeiter ist, unterstützt. Wittlich war seine verlorene Heimat, über die Feiner bei einem Besuch nach 1945 sagte: "Ich war ein Fremder in der Welt meiner Jugend." Er, der auch betonte, "Schuld ist nicht vererblich", schrieb 1992: "Das Vergessenwollen ist eine nagende, geistige Krankheit, die nicht heilbar ist. Nur bekennen und ändern, kann Gesundung bringen." Und weiter: "Aber seelischen Schmerz, Entmenschlichung, Wert- und Rechtlosigkeit kann man verstehen, wenn man sich in die Situation der Opfer versetzt." Das Buch "Spätes Erinnern" gibt dazu die Möglichkeit.

Extra

Der Band "Spätes Erinnern - Ein Lesebuch zu Verfolgten und Opfern der NS-Diktatur aus Wittlich und Umgebung" erscheint in der Reihe "Beiträge zur Geschichte und Kultur der Stadt Wittlich" und wird vom Kulturamt der Stadt herausgegeben. Auf 300 Seiten mit zahlreichen Abbildungen sind 50 biografische Porträts zusammengetragen, die zum Teil in verkürzter Form auch im Trierischen Volksfreund erschienen sind. Die Publikation wurde von der Stiftung Stadt Wittlich finanziell gefördert. Das Buch ist zu einem Preis von 19,80 Euro nach der Vorstellung am Mittwoch, 21. September, 19 Uhr, in der Synagoge eben dort sowie im Alten Rathaus und Wittlicher Buchhandlungen erhältlich. Zur Vorstellung wird Bürgermeister Joachim Rodenkirch sprechen. Der Wittlicher Bildhauer Sebastian Langner wird eine Passage vortragen und der Autor über Denunziationen in der NS-Zeit referieren. Die musikalische Gestaltung übernimmt Till Christen. Der Eintritt ist frei. sosExtra

 Offiziell vorgestellt wird die neue Publikation des Wittlicher Autors zur NS-Lokalgeschichte am Mittwoch, 21. September, 19 Uhr in der ehemaligen Synagoge. Danach ist das Buch erhältlich.TV-Foto: Klaus Kimmling

Offiziell vorgestellt wird die neue Publikation des Wittlicher Autors zur NS-Lokalgeschichte am Mittwoch, 21. September, 19 Uhr in der ehemaligen Synagoge. Danach ist das Buch erhältlich.TV-Foto: Klaus Kimmling

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Franz-Josef Schmit lebt seit 1985 in Wittlich und ist Lehrer für Deutsch und Ethik am hiesigen Cusanus-Gymnasium. Der gebürtige Saarländer (Jahrgang 1954) engagiert sich im Arbeitskreis "Jüdische Gemeinde Wittlich". Er publiziert regelmäßig etwa in Kreisjahrbüchern zu der NS-Lokalgeschichte und Hintergründe zur früheren jüdischen Gemeinde der Stadt. Unter anderem ist er auch Autor von "Joseph Feiner - Ein jüdischer Lehrer in Wittlich", "Novemberpogrom in Wittlich 1938", "Vertriebene sind wir, Verbannte". Zudem sind Beiträge von ihm im Trierischen Volksfreund veröffentlicht worden. sos

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