Zu Hause auf Rädern

LANDSCHEID. (red) Beim Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema "Wo bin ich zu Hause" schaffte es Torsten Oster aus Landscheid (Erstlingswerk "Spurensuche", der TV berichtete), sich für eine Lesung beim Literaturfest in Mannheim zu qualifizieren. Osters Thema: Eine Landscheider Frau hat Sehnsucht nach ihrem alten Händlerwagen. Heute veröffentlichen wir den ersten Teil der zweiteiligen Kurzgeschichte.

"Komm Sofi, komm! Wo bleibt sie denn jetzt schon wieder? Sitzt sie nun endlich in ihrem Rollstuhl?" "Warte, ich schiebe sie raus." "Wie geht es uns denn heute, Sofi?" Sofi sagte nichts, sondern nickte nur. Sofi - Hanna-Sofia war ihr vollständiger Name - war eine 98 Jahre alte Frau. Heute, am Landscheider Frühjahrsmarkt, war ihr Sohn Richard mit seiner Frau Hildegard zu Besuch, um sich pflichtgemäß einen Tag im Monat mit ihr zu beschäftigen. Am Frühjahrsmarkt kamen sie immer. Oma Sofi hatte zu ihnen gesagt, dass sie, solange sie noch könne, wenigstens auf den Frühjahrsmarkt gehen wolle. Wenn sie das nicht mehr könne, dann wolle sie auch nicht mehr leben. "Blödsinn. Sei nicht albern", hatte ihr damals noch Sohn Richard entgegnet. Oma Sofi allerdings meinte das sehr ernst. Für sie bedeutete der Markt und vor allem das, was sie bald auf ihm sehen würde, mehr. Es war ein Teil ihres Lebens. Ob sie noch den hundertsten Geburtstag feiern würde? Ja, fast ein Jahrhundert steckte der guten alten Sofi schon in den Knochen. Zwei Weltkriege hatte sie miterlebt, war Kleinkind als Bismarck starb, heiratsfähig unter Kaiser Wilhelm und Trümmerfrau unter Konrad Adenauer. Oma wurde sie während des Mauerbaus. Hildegard schob den Rollstuhl mit Sofi vor sich her und blieb schließlich vor ihrem ungeduldig wartenden Mann stehen. "Sofi, deine Enkel wollen dir Guten Tag sagen", sagte ihr Hildegard. "Hallo Omi", murrten die Zwillinge. Ein Besuch bei Oma Sofi war für sie früher immer sehr einträglich gewesen. Ein bisschen Taschengeld und etwas Süßes hatte es gegeben. Aber nun war Oma sogar schon zu alt dafür. Oma Sofi musterte ihre beiden Enkel. Beide trugen weite Hosen und knallbunte T-Shirts mit fremdsprachiger Aufschrift. Etwas Wehmut erkannte man in Sofis Augen. Richard schloss die Haustüre und sie brachten Sofi auf ihren Früh-jahrsmarkt. Auf dem Bürgersteig liefen schon etliche Menschen zum Markt hin, oder kamen von dort zurück. Kaum jemand von den zurückkehrenden Marktbesuchern war mit leeren Händen unterwegs. Große Blumenstämme verbargen Gesichter und prall gefüllte Taschen mit Töpfen und Ton hingen an den Händen - fast so wie damals vor hundert Jahren. Oma Sofi sah ganz aufgeregt auf die Menschenmenge die mit zunehmender Nähe zum Markt immer dichter wurde. Der ganze Trubel war etwas viel für eine alte Frau. Aber das war ihr egal. Sie musste hin. Was sie antrieb war stärker als das Alter. Ob er auch dieses Jahr wieder da war? Sicher, er musste. Er war bisher jedes Jahr da gewesen. Er fehlte nie. Sie wurde nervös. Sie würde ihn wieder sehen können, auch wenn es nur für ein paar Minuten war, aber sie würde ihn sehen können. Und mit ihm sah sie Erinnerungen. Er versetzte sie zurück, in eine andere Welt. In eine Welt, in der man noch nicht in ein bis zwei Stunden halb Europa überqueren konnte. In eine Welt, die auf ihre Weise aber nicht minder aufregend war, als die jetzige. Zumindest war sie aufregend für Sofi gewesen. Das sah man in ihrem Gesicht. Erwartungsvoll und aufblühend sah sie dem Moment entgegen. Ein ganzes Jahr hatte sie warten müssen. Ein ganzes Jahr. Torsten Oster Wenn auch Sie eine historische Anekdote kennen, den Namen eines Hauses oder einer Straße erklären können oder zu einem historischen Ereignis eine persönliche Geschichte zu erzählen haben, schreiben Sie unter dem Stichwort "Stadtgeschichten" mit Namen, Adresse und Telefonnummer an die E-Mail-Adresse mosel@volksfreund.de. Wichtig ist, dass Ihre Geschichte höchstens 60 Druckzeilen (à 30 Anschlägen) umfasst.

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