Aufklärung statt Ablenkung

Eines haben Befürworter und Kritiker der szenischen Lesung "Liebesbriefe an Adolf Hitler" gemeinsam: Weder die einen noch die anderen haben die Inszenierung bis jetzt gesehen. Die Differenzen bringen zwei Aspekte zum Ausdruck: In welcher Form kann zu bestimmten Anlässen an gezielt ausgewählten Orten bestimmter Opfer gedacht werden?

Welchen Beitrag zur historischen und aktuellen Aufklärung können ins Zentrum gerückte Inhalte leisten? Meine Ablehnung der Lesung basiert auf der Beschäftigung mit Ulshöfers Publikation von 1996, die als Grundlage des Stücks dient und betitelt ist mit "Liebesbriefe an Adolf Hitler - Briefe in den Tod". Dokumentiert werden Verehrerinnenbriefe von 1939 bis 1945. Den im zweiten Teil des Titels angekündigten und im Schlussteil konstruierten Zusammenhang, nämlich die Überweisung dieser "wahnsinnigen" Briefschreiberinnen in das Euthanasieprogramm, können weder diese fragwürdige Veröffentlichung noch spätere Recherchen belegen. Für mich ist die hier zum Thema gemachte Lesung Ausdruck einer Geschichtsvergessenheit, wenn man suggeriert, diese Briefe könnten Ursachen und Entstehung einer Diktatur erhellen. Die mit den "Liebesbriefen" verbundene Geschichtsbetrachtung mag als bizarres Seitenthema im gegenwärtigen "Aufarbeitung-Trend" liegen, sie ergeht sich aber in Psychologismus und kann höchstens Voyeurismus auf eine skurrile Facette des Dritten Reiches befriedigen. Über diese Form wenig reflektierter Ablenkung sollten Befürworter der Lesung nachdenken und sich dann den Kernfragen zur Entstehung des Faschismus und zur Massenvernichtung zuwenden. Der 9. November 1938 markiert den Höhepunkt der Entrechtung der Juden, der Gedenktag gilt jüdischen Opfern und sollte für junge Menschen genutzt werden, vor rechtsradikalen Ideen und Antisemitismus zu warnen, sie zu Zivilcourage zu ermutigen und ihr Eintreten für Menschenrechte zu stärken. In dieser Verpflichtung gibt es in Wittlich seit Langem eine Gedenkkultur, die eher einfach für eine überschaubare Bürgerschaft, aber doch eindringlich die Ereignisse und den damit vollzogenen Zivilisationsbruch in Erinnerung ruft. Franz-Josef Schmitt, Wittlich

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