Blühende Innenstadt

Meckerfasten ist wirklich anstrengend, aber ich habe es durchgehalten! Und so ganz kann ich jetzt auch noch nicht lassen. Ich finde die Idee, die Neustraße für den Verkehr zu öffnen; echt visionär und fortschrittlich.

Dass das noch keinem eingefallen ist! Ich sehe sie vor mir: die blühende Neustraße. Endlich dürfen wieder Autos durchfahren, paradiesische Zustände. Die Menschen sitzen glücklich vor dem Café und schauen auf aufgemotzte Opels, Fords und Golf GTIs, die im regelmäßigen Rhythmus von etwa zehn Minuten vorbeikommen. Der Kaffee schwappt in den Tassen durch die wummernden Bässe, die durch die offenen Autofenster dringen. Auch weiter oben, da können die Athleten mit ihren sportlichen Geländewagen direkt vor das Geschäft fahren, um Turnschuhe zu erwerben, mit denen sie dann aufs Laufband im Fitnesscenter gehen. Gut situierte Herren im Porsche oder BMW haben die Möglichkeit, der Dame ihres Herzens edle Dessous zu kaufen, die sie dann nicht in diskreten Tüten durch die Stadt tragen müssen, sondern direkt im Wagen verstauen können. Ja, auch alle die Menschen, denen beim Vorbeifahren am neuen Verkehrsleitsystem plötzlich auffällt, dass sie dringend eine neue Brille brauchen, können sich vom Navigationsgerät direkt zum Optiker führen lassen, statt blind durch die Gegend zu tappen. Und damit sich die Geschäftsleute in der Burgstraße nicht benachteiligt fühlen, sollte man die auch gleich öffnen. Was das bringt? Neuansiedlungen ohne Ende: Ein Sylter Fischimbiss und ein Münchner Feinkostenladen würden Filialen eröffnen. Feine Herrschaften könnten Austern und Champagner schlürfen und dabei den Jaguar oder Mercedes im Blick behalten. Höchste Qualität für Wittlichs Qualitäts-Innenstadt. Da macht auch der Bürgermeister mit. Schließlich könnte er dann in einer Art Papa-"Bussi"-Mobil durch die blühende Innenstadt fahren, die Bürger würden ihm zujubeln, und er würde wie die Queen dem Volk huldvoll zuwinken. Dann wäre die Neustraße auch endlich wert, in Calleen-Boulevard umbenannt zu werden. Denn der große Kulturamtsleiter legt bekanntlich Wert auf hohe Qualitätstandards. Deshalb treten ja bei den Wittlicher Kulturtagen auch keine Wittlicher Künstler auf. Denn die kommen an die calleenschen Qualitätsstandards einfach nicht ran. Das ist bitter, aber für den Wittlicher Kulturhüter schlicht die Wahrheit. Und solch traurige Wahrheiten haben weder auf dem Calleen-Boulevard noch bei den Kulturtagen was zu suchen. Aber auch dieses Problem ist schnell gelöst: Wittlicher Künstler und die Fußgänger können dann ja in die Schlossgalerie gehen, damit in der famosen Innenstadt genug Platz ist für Qualität aus aller Welt. Vielleicht eröffnet der Louvre ja dann eine Zweigstelle im Meistermann-Museum - oder Calleen wechselt aus der für Hochgeistiges so verständnislosen Provinz gleich nach Paris. Bis dann, Euer

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