Freiheit für die Füße?

So wichtig wie die Reifen für das Auto sind die Schuhe für den Läufer. Ein Trend ist das natürliche Laufen mit möglichst wenig Schuh. TV-Laufreporter Rainer Neubert hat mit dem Natural-Running-Experten Jens Nagel über das Thema diskutiert.

 Wer seine Laufgewohnheiten wie Schuhe über den Haufen wirft, sollte vorsichtig sein. Bei zu schnellem Wechsel zum Natural Running droht Verletzungsgefahr.

Wer seine Laufgewohnheiten wie Schuhe über den Haufen wirft, sollte vorsichtig sein. Bei zu schnellem Wechsel zum Natural Running droht Verletzungsgefahr.

Foto: Rainer Neubert

Minimalismus liegt im Trend. Beim Laufsport heißt das, möglichst auf eine dicke und gut gedämpfte Sohle zu verzichten. Die Stabilität, die den Fuß stützen soll und noch vor wenigen Jahren als absolutes Muss galt, verschwindet zugunsten größter Flexibilität dank tief gekerbter Sohlen und einem Außenschuh, der nur noch dazu dient, dass die Sohle auch am Fuß bleibt. Ein "Gefühl wie das Barfußlaufen" versprechen die Werbestrategen.

"Natural Running kann sehr gesund und effektiv sein", sagt der Sportlehrer, Laufschuhexperte und Bewegungsanalyst Jens Nagel, "wenn man es sinnvoll betreibt." Der 37-jährige Fitnesscoach aus Trier spricht von 55 Fußmuskeln und 33 Gelenken, deren Beweglichkeit und Funktion durch das natürliche Laufen in verbessert werden.

Wer wissen will, was mit natürlichem Laufen gemeint ist, sollte einfach mal die Schuhe ausziehen und barfuß über den Rasen traben. Automatisch wird er dabei vermeiden, mit der Ferse und nach oben gezogenem Vorderfuß auf dem Boden zu landen. Natural Running bedeutet einen Fußaufsatz mit der ganzen Fußsohle, in der Tendenz sogar das Auftreten mit dem Vorderfuß. Aber gerade das wurde mit den extrem gedämpften Laufschuhen der vergangen Jahrzehnte verlernt. Weil es nicht weh tat, knallten viele Läufer einfach mit der Ferse auf den Asphalt. Dämpfung und Stabilisierung wurde von den Schuhen übernommen.

Jens Nagel: "Normalerweise dient das Fußgewölbe der Stoßdämpfung. Die Wadenmuskulatur ist bei der Landung angespannt und fixiert das Sprunggelenk. In Schuhen verkümmern diese Funktionen." Vor einem spontanen Umstieg auf minimalistische Schuhe warnt der Natural-Running-Trainer dennoch. "Langsame Anpassung ist das Zauberwort. Läufer, die bislang mit starker Erhöhung unter der Ferse unterwegs waren, sollten sich langsam an flache Schuhe gewöhnen, weil sonst Wadenmuskulatur und Achillessehne schnell überlastet werden." Es mache keinen Sinn, einem Läufer Minimalschuhe zu verkaufen, wenn dieser im Training mit einer erhöhten Sprengung (Unterschied Rückfuß zum Vorderfuß) laufe.

Wer schon einmal mit der Achillessehne Probleme hatte, weiß, wovon Nagel spricht. Solche Verletzungen sind nicht nur schmerzhaft, sondern auch langwierig. Denn Bänder und Sehnen heilen wesentlich langsamer als Muskeln. Und auch zur Umstellung des Laufstils benötigen sie mehr Zeit. Wer zu ambitioniert umstellt, zahlt das mit Schmerzen.

"Wichtig ist es, die Sprengung der Schuhe schrittweise zu reduzieren und außerdem die Lauftechnik mittels Lauf-ABC immer wieder zu trainieren", sagt Jens Nagel. Seine Empfehlung: In den ersten zwei Wochen dreimal eine Barfußeinheit von zehn Minuten Dauer einplanen. Dann können in den nächsten zwei Wochen immer fünf Minuten addiert werden. Besonders wichtig sei es dabei, auf naturnahen Belägen wie Rasen oder festem Sand zu laufen, oder Minimalschuhe zu nutzen.

Wissenschaftler aus den USA, Kanada und Australien haben allerdings nachgewiesen, dass viele Läufer, die bislang in gedämpften Schuhen unterwegs waren, in minimalistischen Schuhen ihren Laufstil und die Schrittfrequenz kaum veränderten. Das hatte die Folge, dass in drei Vergleichsgruppen die Läufer mit den wenig gedämpften und flachen Schuhen nach zwölf Wochen Training sogar am häufigsten verletzt waren. Über weniger Verletzungen klagten die Barfußläufer. Die geringsten Probleme hatten die Läufer, die wie zuvor in den Schuhen mit dicker Sohle und großer Stabilität unterwegs waren.

Wer dem Trend zum minimalistischen Schuh folgen will, sollte also vorsichtig sein und überlegen, ob es sich lohnt. Wer bereits Probleme mit Wade oder Achillessehne hat, sollte zunächst diese Probleme in den Griff bekommen und korrekte Bewegungsabläufe ebenso trainieren wie die Kraft.

Minimalschuhe können aber dennoch eine sinnvolle Investition sein. "Gerade bei Trägern von Einlagen macht es Sinn, die Fußmuskulatur immer wieder zu schulen", empfiehlt Jens Nagel. " Das Tragen von flexiblem Schuhwerk im Alltag ist dafür sehr zu empfehlen. Aber natürlich auch kurze Läufe in Minimalschuhen." Ergänzend hält er koordinative Übungen sowie die Kräftigung der Wadenmuskulatur durch einbeiniges Wadenhaben an einer Treppenstufe und die anschließende Entspannung der Muskelhaut (Faszien) durch das Rollen über eine harte Styroporrolle (Black Roll) für sehr effektiv. Orthopädische Standardeinlagen bezeichnet laut Nagel aber Gift für die Fußmuskulatur. "Die verkümmert dadurch zusätzlich. Wenn Läufer wegen orthopädischer Probleme Einlagen benötigen, dann sollten diese eine propriozeptive Wirkung haben." Diese Sporteinlagen haben zum Ziel, die Muskelspannung zusätzlich zu aktivieren und so die gesamte Körperspannung zu verbessern.

Minimalschuhe oder nicht? Auf welchen Laufschuh sollte also die Wahl fallen? Die Antwort auf diese Fragen muss jeder für sich selbst beantworten. Wer es langsam angehen lässt, kann durchaus auf Minimalschuhe oder gar Barfußschuhe umstellten. Er sollte sich allerdings über das Verletzungsrisiko im Klaren sein. Wer dennoch auf einen der leichten und trendigen Schuhe nicht verzichten will, sollte zugreifen. Als sportliche Freizeitschuhe liegen die Minimalisten voll im Trend.

Dieser Artikel ist erschienen in der Winterausgabe von "Glanzvoll - das Magazin für Menschen mit Stil" im Heft "Männer spezial"

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