Lebenslauf

Tak, tak, tak - drei Schritte einatmen -, tak, tak, tak - drei Schritte ausatmen. Minuten um Minuten, mehr als zwei Stunden.

 Lebenslauf, so weit die Füße tragen. Foto: dpa

Lebenslauf, so weit die Füße tragen. Foto: dpa

Foto: B1000_epu (g_sport

Viele Meter, viele Kilometer, insgesamt über vierzig. Fußspitzen schnellen nach vorn, ziehen die Straße unter den Körper, Füße fressen Asphalt - an diesem Tag glühenden Asphalt. Menschen an der Straße, Tausende und Tausende, sie muntern auf, applaudieren und schreien. Und johlen und klatschen, werfen nasse Schwämme, reichen Wasser. Menschen, die Gesichter für ihn nur wippende bleiche Flecke, die sich aneinanderreihen. Noch Hunderttausende bis zum Ziel. Vor ihm tak, tak, tak, neben ihm tak, tak, tak, hinter ihm tak, tak, tak. Viele Füße fressen Asphalt. Der hungrigste gewinnt. Wie im Leben. Wie im Leben?
Er schaut auf seine Uhr, die Zeit ist gut. Dreißig Sekunden unter Limit. Lass' die anderen doch vorbeiziehen. Sieger ist, wer zum Schluss ... Wie im Leben.
Kühlen Kopf bewahren. Trotz fünfunddreißig Grad im Schatten. Kühlen Kopf bewahren und den Rhythmus nicht verlieren. Tak, tak, tak - Sieg, Sieg, Sieg.
Er horcht in sich hinein. Kein Alarmzeichen, kein Warnsignal. Oberschenkel noch locker, Waden auch, Arme, Schultern und Rücken nicht verkrampft. Er federt die Schritte, der Schwerpunkt bleibt auf gleicher Höhe, Füße streicheln den Asphalt.
Alles hat er getan, keine Strapaze ausgelassen. Höhentraining auf dem Plateau, sein Blut mit Sauerstoff angereichert. Intervallläufe in der Universität, die Härte in seinen Körper geprügelt und den Siegeswillen gestählt. Blasen über Blasen an den Füßen, Zehen und Knöchel aufgescheuert, Verstauchungen und Ergüsse, Zerrungen und Muskelfaserrisse, Krämpfe und Übelkeit. Tausende von Kilometern, Millionen Atemzüge, unzählige Schritte, bei jeder Jahreszeit, bei jedem Wetter. Heute der Tag. Viele Jahre geopfert für den einen einzigen Tag, für gut zwei Stunden eines Tages. Er will es wissen. Sein Kopf will es wissen, sein Körper will es wissen und hat sich dem Willen zu unterwerfen. Ein Blick auf die Uhr, fünfunddreißig Sekunden. Vor ihm vielleicht zwölf oder fünfzehn, hinter ihm der Rest des Feldes.
Laufen konnte er schon immer. Laufen musste er schon immer, von der schäbigen Siedlung in den nächsten Shop am Highway, gleich am Rande des Reservates. Drei Kilometer in die eine Richtung, drei in die andere. Für die Alten des Dorfes und für die Jungen. Alkohol und Zigaretten. Bereits mit zehn lief der die Strecke jeden Tag, manchmal, wenn der Durst groß und die Alten gesprächig, auch zweimal. Einen dünnen Gürtel um den Hals, daran die Flaschen gebunden und mit den Fingern umgriffen - damit die Arme nicht taub wurden. Zigaretten steckten im Hosenbund.
Ohne Schuhe lief er, auf dem puderigen Untergrund des Coloradoplateaus. Ohne Schuhe, wie sein Idol. Und damals auch schon fast so ausdauernd.
Woher das große Foto stammte - sein Idol barfuß vor den antiken Überresten von Rom -, er weiß es heute nicht mehr. Barfuß wie er, arm wie er. Das verbindet. Und das motiviert, wenn man etwas erreichen will. Sogar ohne Schuhe geht das.
Tak, tak, tak - drei Schritte ausatmen -, tak, tak, tak - drei Schritte einatmen. Immer im Rhythmus bleiben. Den Atem gleichmäßig zur Lunge ziehen und gleichmäßig wieder herausdrücken. Durch Mund und Nase. Leicht über die Füße abrollen, wegen seiner O-Beine setzt er die Spitzen etwas nach innen. Aber er schaukelt nicht mit dem Oberkörper. Schaukeln bringt Unruhe und kostet Kraft.
Vierzig Sekunden jetzt. Er ist zufrieden. Seine Mundwinkel zucken leicht. Die erste Verpflegungsstation. Vor ihm greifen zehn Hände nach Schwämmen und Plastikbechern, mal Wasser, mal ein Mineralgetränk. Nur zehn Hände, höchstens zwölf. Den Nacken gekühlt, das Gesicht abgewischt, ein paar Schluck getrunken, weiter geht es. Augen nach vorn, zum Ziel, auf den Rücken der wenigen Gegner geheftet. Augen, die sich festsaugen. Nur keinen entwischen lassen, aber auch nicht den Rhythmus verlieren. Tak, tak, tak. Er macht sein Rennen. Die Uhr bestimmt alles. Die Uhr und sein Körper. Und sein Wille, sein unbeugsamer Wille.
Kein Ziehen in den Beinen, die Muskulatur noch gut mit Sauerstoff versorgt. Auch die Patella schmerzt nicht. Die Kräuter des Stammesältesten wirken, andere brauchen Spritzen. Ein Motorrad schnarrt vorbei, hintendrauf ein Kameramann, der jede Schweißperle einfangen will. Ein Elek troauto surrt einige Sekunden gleichschnell neben ihm her. Der Fahrer ruft etwas, aber er reagiert nicht. Keine Ablenkung, nur das Ziel vor Augen.
Sein Vater ließ sich ablenken. Nie hatte er während der Arbeit getrunken, und außer Schreiben und Lesen konnte er nur noch Trucks fahren. Reifen fraßen den Asphalt, Tausende von Meilen im Monat. Die Familie hatte viele hungrige Mäuler. Und er war das jüngste - die Mutter schon früh gestorben, noch bevor er mit dem Laufen begann. Dann der Betrunkene, den sein Vater aus Hilfsbereitschaft mitnahm. Der lenkte ihn ab. Vier Stunden mussten die Feuerwehrleute den Truck löschen. Der Betrunkene wurde hinausgeschleudert und überlebte. Es trifft immer die ... Wie im Leben.
Fortan ließ er sich das Laufen zum Shop bezahlen. Ein Dollar pro Tour. Und er lief jetzt dreimal am Tag. Auch weitere Strecken, denn die Familie brauchte das Geld.
Vor vielen Jahren entdeckte dann zufällig ein Journalist sein Dorf. Er machte ein Foto von ihm, seine Geschichte wurde in der Zeitung verbreitet. Touristen kamen in klimatisierten Bussen, durchpflügten das Reservat und machten Fotos. What a wonderful boy! Sie tauften ihn Running Bull. Dabei war er doch so schmächtig, wie sein Idol. Und er lief immer noch barfuß, genau wie früher sein Idol. An der Lehmwand hing ein Foto von ihm, heute hängt es in seinem großen Apartment. Vier Zimmer, Küche, zwei Bäder, bezahlt vom Laufen. Boston fünfzigtausend, New York vierzigtausend, Sao Paulo fünfundsiebzigtausend. Damit kommt er gut über die Runden, kann seiner Familie sogar etwas zukommen lassen. Vor allem seinen älteren Brüdern, die ihn früher unterstützt hatten. Aber noch fehlt der große Sieg. In Berlin hatte er an der Spitze liegend aufgeben müssen. Salzverlust und Krämpfe. Und das verdammte Seitenstechen. Meldete sich immer bei Kilometer achtzehn. Zuerst nur ein leichtes Pieksen, als wollte es ihn ermahnen. Dann dicke glühende Nadeln, die tief eindrangen. Nur wenn er sich krümmte, war der Schmerz erträglich. Aufgeben, das schwor er sich in Berlin, würde er nie mehr. Auch nicht im Leben. Schon als Junge hatte er nie aufgegeben, noch nicht einmal mit Dornen in den Füßen. Genau wie sein Idol. Auch dann nicht, als andere, größere Jungs ihm auflauerten und den Schnaps stahlen und ihn verprügelten. Keiner im Dorf wollte ihm glauben. Erneut musste er zum Shop und mit seinem Ersparten bezahlen. Zwanzig Läufe umsonst. Nie mehr würde er im Leben ohne Geld laufen. Nur noch heute. Da ging es um die Ehre. Und um sein Idol. Der Afrikaner lief in Rom auch nicht für Geld.
Tak, tak, tak - drei Schritte einatmen -, tak, tak, tak - drei Schritte ausatmen. Immer noch vierzig Sekunden, obwohl die letzten zwei Kilometer leicht angestiegen sind. Nun hat er voll seinen Rhythmus gefunden, nach einem Drittel der Strecke. Körper und Kopf im Einklang. Das ist einfach, der Körper braucht sich nur unterzuordnen. Und alles andere hat sich seinem Ziel unterzuordnen. Auch die Freundin. Zuerst nur Klagen und auf den Sport schimpfen, dann hat sie ihn endlich begriffen. Laufen war sein Leben. Und wie er lebte. Jede Faser seines Körpers, jede Muskelzelle, und auch die anderen Zellen.
Augen nach vorn, zum Ziel. Vielleicht zehn Rücken sieht er noch, einige scheinen eine immer schwerere Last zu tragen. Locker laufen, sogar mal lächeln, aber um Himmels willen nicht dem Gegner ein Bild der Schwäche bieten.
Platsch. Ein halber Eimer Wasser ergießt sich über ihn. Zuerst erschrocken, ist er dankbar für die Abkühlung. Erst elf am Vormittag, und schon mehr als dreißig Grad. Fußspitzen schnellen nach vorn, immer genau auf die gelbe Markierung gesetzt, die Ideallinie. Keinen Zentimeter zu viel, auf kürzestem Weg zum Ziel. Arme angewinkelt, Finger leicht gekrümmt, als hätte er einen Tennisball in der Hand.
Er zupft das Trikot etwas aus der Hose, damit es der Schweiß nicht so auf den Körper klatscht. Die Brustwarzen hat er kreuzweise mit Pflaster überklebt. Wunde Brustwarzen, das ist so schlimm wie Seitenstechen. Hält aber eine Woche an.
Er überholt einen Konkurrenten. Langsam, Zentimeter für Zentimeter. Ein schneller Blick zur Seite in das verzerrte Gesicht, für das der mörderische Lauf bald zu Ende sein wird. Der Asphalt frisst die Läufer. Viele würde er noch fressen. Und mehr als die Hälfte der Distanz liegt noch vor ihnen.
Unter den Touristen im Dorf war ein Besonderer. Zuerst beobachtete er ihn nur. Dann lief er neben ihm her. Als der Ältere nicht mehr konnte, schaute er ihm verwundert nach und besorgte sich heimlich einen geflochtenen Gürtel und zwei Flaschen. Nach zwei Kilometern begann er zu taumeln und musste stehen bleiben. Und dann überlegte der Fremde. Noch am gleichen Tag sprach er ihn an. Früher, vor vielen Jahren, sei er auch gelaufen. Sogar bei Olympia. Wie der hier auf dem Foto. Weshalb denn der asketische Afrikaner sein Idol sei? Habe er sonst nichts? Er nickte und schwieg. Hätte er von seinem Vater erzählen sollen, ernst und stolz, von dessen rissigen Händen, sie ihn so zärtlich streicheln konnten? Von seiner Mutter, die er fast nur vom Erzählen kannte und trotzdem so vermisste? Von seinen Brüdern?
Auch mit seinen Brüdern sprach der Fremde. Man wurde sich schnell einig. Den Rest des Stipendiums, so versprach der Fremde, würde er drauflegen. Zwei Wochen später war er mit ihm aus dem Dorf verschwunden. Die Alten trauerten ihrem Laufburschen lange nach.
Tak, tak, tak - drei Schritte ausatmen -, tak, tak, tak - drei Schritte einatmen. Die Wendemarke. Halbzeit. Zwei Minuten dreißig unter der Zeit. Ein zweiter Blick, die Uhr betrügt ihn nicht. Betrügt ihn sein Körper? Er fühlt sich leicht und ausgeglichen. Warum kein Ziehen in den Achillessehnen, wie sonst auf Asphalt? Und der Nacken noch ohne Verspannung? Auch der Druck über den Augenbrauen fehlt. Ein kurzer Körpercheck, keine Fehlfunktion gemeldet. Verwundert schüttelt er die Arme aus und lässt sie einige Schritte wie leblos pendeln. Verwundert starrt er auf die Rücken vor sich. Vier zählt er. Sind ihm einige entkommen? Schon vorne um die Straßenecke gebogen? Wenige Sekunden später beruhigt er sich wieder. Zwei Kilometer freie Sicht, und nur vier Rücken. Drei dunkelhäutige und ein weißer, etwas hinter der Dreiergruppe zurückhängend.
Ich muss mich mehr auf das Rennen konzentrieren, darf meine Gegner nicht aus den Augen lassen. Warum schweife ich fortwährend mit den Gedanken ab? Weil mich das Laufen so entspannt. Es für mich Ablenkung und wie eine Sucht ist. Die Füße meinen Körper davontragen und meine Gedanken mich. In ungeahnte Welten, zu ungeahnten Einsichten. Schwerelos, keiner Einengung unterworfen. Körperliche Spitzenleistung mit der geistigen einhergeht. Oder bin ich doch nur ein ... Fantast? Noch schlimmer: ein Besessener, ein Verrückter sogar - und ein Egoist? Geht keinen etwas an, aber nur mir allein gönne ich den Sieg. Ich habe ihn verdient. Der bessere soll ... So ist nun mal der Sport: viele Verlierer und nur einen Sieger. Wie im Leben.
Seine Beine laufen weiter, seine Gedanken laufen weiter und erreichen immer wieder neue Dimensionen. Wie seinerzeit beim Schnaps kaufen, als er sich in riesigen Schritten über die Erde eilen sah. Unter ihm Städte, Flüsse, Berge und Täler, die weite Welt und eine ungewohnte Freiheit - ohne willkürlich einengende Reservatsgrenzen. Ohne Schwarz und Weiß und Rot, ohne Reich und Arm und Alkohol. Nur Zukunft. Wollte er denn schon so früh aus seinem Dorf flüchten? Ist mein Dorf und mein Volk nicht ein Stück von mir? Und sind wir nicht etwas Besonderes, weil uns die Regierung jetzt endgültig entschädigen will? Uns endlich eine Zukunft gibt?
Er löst sich von der gelben Linie und schwenkt nach links in den Schatten der Häuser. Idiot, schimpft er. Zu Hause auf dem Plateau kannst du auch nicht den Schatten suchen. Außerdem ist jetzt der Weg länger. Aber dafür saugt der Asphalt nicht so an den Sohlen. Er läuft wie in einem Tunnel. Die bleichen Flecke beachtet er nicht, das Gejohle der Zuschauer nur ein dumpfes Rauschen, die Kameraleute ein notwendiges Übel. Er allein in einem Tunnel, und der kennt nur eine Richtung. Hin zum Ziel, hin zum ... Sieg.
Überraschend hatte ihm sein Trainer ein zweites Foto an die Wand gehängt. Der gleiche Mann, nur etwas älter. Und nicht mehr barfuß beim Laufen, sondern im Rollstuhl. Die Augen müde, der Körper eingefallen, die Hände um das Chrom gekrallt. Damit er nicht übermütig werde, hatte sein Trainer gesagt. Siege machen euphorisch und oft blind für die Wirklichkeit. Denke auch an morgen und an die Zeit danach. Denke auch an dich. Und denke besonders daran, wo du herkommst. Das alles hatte der Trainer gesagt. Und dabei hatte er gerade sein erstes großes Rennen gewonnen. Seit diesem Zeitpunkt spendete er anonym ein Drittel des Lauflohnes an sein Dorf. Zuerst wurde die kleine Schule gestrichen. Jeder wusste, wo das Geld herkam.
Und wenn er wieder nach einem Sieg starke Euphorie verspürte, zog er sich in sein Apartment zurück, blätterte in alten Büchern, las bestimmte Passagen und schaute sich die beiden Bilder an. Barfuß vor dem antiken Rom und daneben im Rollstuhl. Andere brauchen einen Gott, er hatte sein Idol. Wie gerne würde er ihm einmal begegnen. Ihm danken für die Kraft, die es in ihm freisetzte. Ihm danken für den Weg und für das Ziel. Wer sah schon so genau den Weg und das Ziel vor sich? Konnte alle Kraft bündeln?
Heute werde ich ihn sehen, zum ersten Mal sehen. Letztes Jahr in Afrika war er nicht gekommen, aber heute ist er Ehrengast. Ungewollt beschleunigt er seine Schritte, als gäbe es einen unwiderstehlichen Magneten. Es gab ihn. Das Ziel, und dort wartete er. Auf der Ehrentribüne, gleich oberhalb des Siegerpodestes. Für ihn laufe ich, und auch etwas für mich. Und für meinen Vater, meine Mutter, meine Brüder und für mein Dorf.
Drei Minuten unter Vorgabe. Ich muss mich bremsen, darf meine Kräfte nicht verschleißen. Noch liegen fünfzehn Kilometer vor mir. Die härtesten. Die mörderischsten. Die Strecke frisst die Athleten.
Endlich, die Achillessehne macht sich bemerkbar. Und der Nacken wird angespannt. Er ist beruhigt über die Körpersignale. Und er ist beruhigt, weil sie mehr als fünf Kilometer später auftreten als gewohnt. Ich schaffe es. Mein Körper fügt sich.
Plötzlich das Loch, keine Motivation, sein Ziel schien zu verschwimmen. Vier Wochen vor dem großen Lauf sonderte er sich von der Mannschaft ab. Mit seinem Trainer fuhr er zum Plateau, quartierte sich bei seinem ältesten Bruder ein und hängte die Fotos an die Lehmwand. Rom und Rollstuhl. Sieg und ...?
Die Dorfältesten waren noch älter geworden, die Häuser verfallener, viele der jüngeren Generation abgewandert. Aber es gab die kleine Schule, schmuck und gepflegt. Und es gab jeden Mittag für die neunundzwanzig Schüler ein kostenloses Mittagessen. Von einem anonymen Spender, wie man sagte.
Barfuß, trotz aller Warnungen, lief er durch den puderigen Untergrund, kleine Staubwölkchen aufwirbelnd. Einen Gürtel um den Hals bis zum Shop an der Straße, den es immer noch gab. Alkohol kaufte er keinen. Dafür Zeitungen und Bücher, die er vorher bestellt hatte. Und Obst und Papier und Schreibzeug und klares Wasser. Alles schleppte er im Laufschritt zum Dorf. Bis zu achtmal am Tag. Sein Trainer brauchte keine Uhr und freute sich, denn sein Schützling lächelte trotz der Strapazen. Wo er bloß die Kraft hernimmt, fragte er sich. Heimlich ging er in sein Zimmer und hängte ein drittes Foto an die Wand. Ein Läufer, barfuß, mit einem Gürtel um den Hals.
Tak, tak, tak - zwei Schritte einatmen -, tak, tak, tak - zwei Schritte ausatmen. Unbedingt den neuen Rhythmus halten. Den bleichen Rücken hat er vorhin überholt. Vergeblich versucht der Geschlagene, an ihm zu kleben. Nun fällt er zurück. Gleich vor ihm die drei dunklen, verschwitzten Rücken. Langsam schiebt er sich heran, ein Kopf ruckt in seine Richtung. Die drei beschleunigen das Tempo. Er kommt näher. Immer wieder ruckt ein Kopf in seine Richtung. Vier Minuten liegt er unter Soll, und nur noch drei Rücken vor ihm. Jetzt neben ihm. Zwei Kilometer lang. Dann löst er sich. Das Ziel wartet, er wartet. Das Keuchen hinter ihm wird leiser, ihre Laufschritte kann er schon nicht mehr hören.
Noch fünf Kilometer. Die letzte Verpflegungsstation. Ein Schwamm über den Kopf ausgedrückt, von einer Flasche einige Schlucke gesaugt. Aus der Dreiergruppe hat sich einer abgesetzt und versucht, ihm zu folgen. Nicht irritieren lassen, Augen zum Ziel, dort wartet er. Seine Fußspitzen schnellen nach vorn und fressen den Asphalt. Die gelbe Linie interessiert ihn nicht mehr. Achillessehne und Nacken und das Ziehen in den Waden interessieren ihn nicht. Sein Körper meldet sich zu spät, das Ziel wird eher erreicht sein.
Irgendwo muss sein Trainer stehen, um ihn noch einmal aufzumuntern. Er sieht ihn nicht. Aber er sieht das Stadion, die in der stickigen Hitze schlapp herunterhängenden Fahnen, die fünf großen Ringe. Eine Leichtigkeit überkommt ihn. Nur keine Euphorie, mahnt er sich.
Das Stadion wächst und verschluckt ihn. Wenige Meter durch eine schattige Unterführung, taucht er in der glühenden Sonne auf. Die Zuschauer springen von den Plätzen. Im Rhythmus seiner Schritte klatschen und brüllen sie ihm dem Sieg entgegen. What a wonderful boy.
Bis zum Ziel, und dann noch eine Runde. Seine Augen lösen sich von dem Kunststoffbelag und wandern zur Ehrentribüne. Wo ist er? Oder hat er ... Seine Gesundheit soll nicht mehr ... Er entdeckt ihn, ist erleichtert und schwenkt von der Innenbahn zum äußeren Rand des Stadions. Tausende Schreie sterben auf den Lippen, Tausende Hände verharren in der Luft. Der Hexenkessel wird zum Friedhof.
Wenige Meter von ihm entfernt bleibt er stehen. Mit dunklen Augen starrt ihn sein Idol an. Hager das Gesicht, Silberfäden in Haar und Bart. Klein und eingefallen sieht er in seinem Rollstuhl aus. Die zarten Hände lösen sich von dem Chrom und umklammern das Geländer. Der Afrikaner versucht sich hochzuziehen - vergeblich. Sein Kopf ruckt zur Unterführung, das Stadion stöhnt und trauert um den Sieg.
Aber er hat alle Zeit der Welt. Schnell atmend, ansonsten ruhig, steht er ihm endlich gegenüber. Wie lange hat er auf diesen Augenblick gewartet? Er verneigt sich. Die dunklen Augen schauen fragend, verstehen nichts, noch nichts. Der Mund des älteren Mannes öffnet sich, eine Hand deutet zur Unterführung. Lauf doch endlich, scheint ihm das Gesicht entgegenzurufen.
Aber er steht und hebt eine Hand. Sein Idol hebt zögernd eine Hand. Und plötzlich lächeln beide. Und beide fahren sich über die Augen. Und dann lässt der Afrikaner die Tränen einfach laufen - er hat verstanden.
Er bückt sich. Irgendwo seitlich hinter ihm ein Keuchen und stapfende Schritte, aber er achtet nicht darauf. Ehrfürchtig - Tausende Zuschauer Zeuge eines ungewöhnlichen Rituals - zieht er seine Schuhe aus und stellt sie säuberlich nebeneinander an den Rand der Bahn. Noch ein Blick zu ihm, ein letzter Gruß, dann läuft er los. Barfuß kann ihn erst recht niemand besiegen.

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