Und schon hat Boll ’ne Fahne

Rio de Janeiro · Timo Boll geht voran: Der Tischtennisspieler aus Erbach im Odenwald trägt bei der Olympia-Eröffnungsfeier die deutsche Fahne. Bevor es losgeht, hat er sich schon mal einige Tipps von erfahrenen Fahnenträgern geholt.

Rio de Janeiro. Als Timo Boll die Treppe hinunter ins Souterrain des Deutschen Hauses am Strand von Barra steigt, stößt er gefühlt mit seinem Grinsen um ein Haar an beide Geländer. Und als der 35-Jährige eine halbe Stunde später später die Vorstellung als Fahnenträger der deutschen Olympiamannschaft hinter sich gebracht hat, hätte es wohl niemanden gewundert, wenn er dieselbe Treppe mit einem kleinen Heiligenschein über dem Kopf wieder hochgestapft wäre.
Als "den bestmöglichen Markenbotschafter für das Team", lobte Alfons Hörmann, Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), den Vorzeige-Tischtennisspieler aus Erbach im Odenwald. Ja, so Hörmann weiter, Boll sei "die personifizierte Zielsetzung für das Team", was das Auftreten als Sportler angehe. "Besser hätten wir es nicht erwischen können." Als Fahnenträger ist Boll nun also einen Tag Nationalheiliger des Sports.
Der Auserwählte selbst wollte zur symbolischen Bedeutung seiner Rolle heute Abend bei der Eröffnungsfeier im Maracana-Stadion natürlich auch irgendwie seinen Teil beitragen. "Vielleicht", sagte der Hesse, "ist das der Höhepunkt meiner Karriere". Und Boll kann als dominierender Europäer seit 2002 wahrlich auf einige Höhepunkte zurückblicken: zwischenzeitliche Nummer eins der Welt, sechsfacher Europameister und WM-Dritter im Einzel, zweimaliger Olympiamedaillengewinner mit der Mannschaft, respektierter Star auch im Tischtennis-Großreich China. Im Vorfeld der Spiele von Rio hatte neben den Mitgliedern der Olympiamannschaft erstmals auch die Öffentlichkeit mitbestimmen können, wer die deutsche Fahne tragen soll.
Knapp 300 000 Menschen hatten ihre Stimme abgegeben - nicht alle für Boll, aber eben doch mehr als für die ebenfalls zur Wahl stehenden Kandidaten, Vielseitigkeitsreiterin Ingrid Klimke, Fünfkämpferin Lena Schöneborn, Hockeyspieler Moritz Fürste und Radsprinterin Kristina Vogel. "Als ich Timo am Mittwochabend gesagt habe, dass er der Fahnenträger wird, hat er erst mal gesagt, dass die anderen vier es genauso verdient gehabt hätten. Das spricht für ihn", erzählte Michael Vesper, Vorstandsvorsitzender des DOSB. Boll seinerseits hatte sich zuvor für den Fall der Fälle auch einfach mal ganz praktische Tipps geholt. Bei Dirk Nowitzki, der 2008 in Peking das deutsche Team angeführt und mit seiner fast kindlichen Freude während des Einzugs ins Stadion Sympathien weit über Deutschland hinaus gesammelt hatte. "Ich habe mit Dirk ein bisschen gewitzelt. Er hat gesagt: Pass auf, die Fahne ist echt schwer", erzählte Boll, "aber selbst als Tischtennisspieler sollte ich das irgendwie schaffen". Boll soll also vorangehen - ganz praktisch im Maracana und ganz symbolisch als Beispiel für den deutschen Weg, den die 423 deutschen Rio-Starter nach dem Willen der Teamleitung gehen sollen. Wie dieser deutsche Weg aussehen soll, das erläuterte Hörmann in fast schon philosophischen Ausführungen, die er nach eigener Aussage auf dem Zwölf-Stunden-Flug nach Rio gebündelt hatte. "Klar muss sein, dass wir Werte leben und Haltung wahren", holte Hörmann aus. "Wir hoffen, dass die Athleten bodenständig und nahbar auftreten und so den Menschen in der Heimat auch mal wieder die schöne Seite des Sports nahebringen", sagte er.
Der DOSB selbst hat natürlich registriert, dass vor allem vor dem Hintergrund des russischen Dopingskandals die Öffentlichkeit zuletzt nicht gerade vor unvoreingenommener Vorfreude auf das Treffen der Jugend der Welt sprühte. Boll selbst sagte: "Für uns Sportler ist es schade, dass man nur noch über Sportpolitik spricht."
Der Linkshänder will dann auch in den Wettkampftagen seiner fünften Olympischen Spiele alles versuchen, dass über neue sportliche Erfolge seinerseits gesprochen wird. Im Einzel erwischte er eine schwere Auslosung, aber mit der Mannschaft sind die Aussichten richtig gut, um am Ende auf dem Treppchen zu stehen. "Ich will hier um die Medaillen mitspielen", sagte Boll. Damit würde übrigens auch nicht mit der moralisch-ethischen Zielsetzung des DOSB kollidieren, nach der gerade in Zeiten voller Dopingverdächtigungen der Sieg nicht mehr alles sein dürfe und zum Sieg eben immer auch die Niederlage gehöre.
Aber ganz haptisch stehen eben auch die 42 bis 71 Medaillen im Raum, die der DOSB als Zielkorridor für die Wettkämpfe am Zuckerhut ausgegeben hat. Vor vier Jahren in London waren es am Ende für Deutschland 44 Medaillen geworden, elf goldene, 19 silberne und 14 Bronzene. Als Erster soll aber heute erst mal Timo Boll glänzen. Als Nationalheiliger für einen Tag.

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