Der Weltmeister, der lieber Olympia-Dritter ist

Osburg · Der Ex-Nationalspieler Frank Mill sagt, warum ihm die Olympia-Bronzemedaille von Seoul von 1988 mehr bedeutet als der WM-Titel 1990, was er in seiner Karriere wirklich bereut hat, und warum ihn die Erinnerung an einen legendären Pfostenschuss nur "manchmal auf den Keks geht". In dieser Woche trainierten Mill und weitere frühere Bundesligaprofis Nachwuchskicker in Osburg.

 Er kann's noch: Ex-Nationalspieler Frank Mill im Trainingsspiel gegen die Eltern der Nachwuchskicker in Osburg. TV-Foto: Andreas Feichtner

Er kann's noch: Ex-Nationalspieler Frank Mill im Trainingsspiel gegen die Eltern der Nachwuchskicker in Osburg. TV-Foto: Andreas Feichtner

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Osburg. Youtube ist schuld. Oder irgendwelche Pannen-Shows auf RTL. Schuld daran, dass manches Kopfkino genau diese eine Szene abspielt, wenn der Name Frank Mill von irgendwo reinrauscht. Bundesliga-Saison 1986/87, 1. Spieltag. In seinem Debüt für Borussia Dortmund in München lässt Mill elegant den herauseilenden Bayern-Keeper Jean-Marie Pfaff stehen, sprintet auf das leere Tor zu. Pfaff rappelt sich noch mal auf, läuft hinterher - und Mill schießt aus kürzester Distanz an den Pfosten.
Ob es vorkommt, dass ihn Leute auf diese eine Szene reduzieren? "Ja, schon", sagt Frank Mill. "Aber nur von Leuten, die nicht wirklich Ahnung vom Fußball haben. Oder wenn Väter das ihren Kindern auf Youtube gezeigt haben." Wenn dem 58-Jährigen die Pfostensache mal zu viel wird, hat er die Argumente in seinem Team: "Wenn's mir auf den Keks geht, sag ich dann: Pass' mal auf, ich habe auch über 130 Tore in der Bundesliga geschossen, über 100 in der zweiten und fast 600 Spiele gemacht." Aber es hätte auch Vorteile. Auch bei einem Torjäger, einem Klassestürmer, kann mal richtig was daneben gehen. "Das finden viele auch sehr sympathisch."
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Ein anderer, nicht so bekannter Pfostentreffer von Mill, hat diese Szene im Dortmund-Dress überhaupt erst ermöglichen können. Es war eine bittere Stunde in der Gladbach-Historie im Dezember 1985: Das Aus bei Real Madrid im Europapokal - und das nach einem 5:1 im Hinspiel auf dem Bökelberg, samt Tor von Mill. Kurz vor Schluss erzielte damals Real das entscheidende 4:0. Aber den Club-Bossen war eine andere Szene hängengeblieben. Ein Pfostenschuss von ihm beim Stand von 2:0. "Die haben mir nachher zum Vorwurf gemacht, dass wir deswegen ausgeschieden wären." Sie machten Mill - damals fünf Jahre bei den "Fohlen" für die nächste Saison ein neues Angebot. Er sollte aber nur noch die Hälfte verdienen. Er ging nach Dortmund - und traf und traf und traf, wie bei all seinen Clubs. "Im Winter wollte mich Gladbach dann zurück. Für deutlich mehr, als ich vorher dort verdient hatte. Aber da habe ich gesagt: Das mache ich nicht." In Dortmund holte Mill, bekannt als das Schlitzohr und der Mann ohne Schienbeinschoner ("Hängesocke"), auch seinen einzigen nationalen Titel, den DFB-Pokal 1989. Häufige Vereinswechsel und große Ortswechsel waren nie sein Ding. 21 Jahre lang Profikicker, verteilt auf vier Vereine: Essen, Gladbach, Dortmund, Düsseldorf. 1996 war Schluss.
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Mittwochnachmittag in Osburg, das Training ist für heute vorbei. Aber viele der 50 Kinder und Jugendlichen aus Osburg und Umgebung lassen sich reichlich Autogramme geben. Auch wenn Etienne, Marvin oder Noah ihre Trainer auf dem Osburger Rasenplatz nie in Bundesliga-Aktion gesehen haben können. Wie etwa Matthias Herget, dessen Bild ziemlich weit oben erscheint, wenn man "bester Libero aller Zeiten" googelt. Pokalsieger mit Uerdingen 1985, Vize-Weltmeister 1986 in Mexiko. Und einer der Protagonisten beim laut 11 Freunde legendärsten Fußballspiel aller Zeiten. Das 7:3 im Europokal zwischen Uerdingen und DDR-Pokalsieger Dresden. Dynamo hatte das Hinspiel 3:1 gewonnen, führte im Rückspiel nach einer Stunde ebenfalls mit 3:1. Und die nächste halbe Stunde heißt seitdem "Wunder von der Grotenburg". Auch die anderen Trainer, die Mill mitgebracht hat, haben Hunderte Spiele in der ersten und zweiten Liga gemacht und auch mal den DFB-Pokal gewonnen, jeweils für Hannover: Martin Groth und Axel Sundermann. "Die Kinder kennen mich nicht", sagt Herget und unterschreibt den nächsten Ball. "Höchstens manche Väter."
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"Ich habe ihm gleich am Montag gesimst und ihm auch vorher schon alles Gute gewünscht." Frank Mill spricht über Horst Hrubesch. Das einstige "Kopfball-Ungeheuer" hat gerade als Trainer der Olympia-Mannschaft die Silbermedaille in Rio geholt, nach dem verlorenen Elfmeterschießen gegen Brasilien. Auch Mill verlor bei Olympia im Elfmeterschießen gegen Brasilien, 1988 in Seoul. Sein Team - Mill war Kapitän - gewann damals Bronze. Aber beide verbindet mehr als das. Als 17-Jähriger debütierte Mill in seiner Heimatstadt Essen in der Bundesliga, Hrubesch war der Mentor des 1,76-Meter-Manns. "Er sagte: Kleiner, du musst immer hinter mir reinlaufen, da fällt immer was runter. Was runter fiel, habe ich reingemacht. Ich habe in meiner Laufbahn mehr Tore mit dem Kopf als mit Fuß gemacht. Das habe ich vom langen Hrubesch gelernt."
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In einem großen Bilderrahmen ist alles drin, was er mal gewonnen hat. Tor des Monats, silbernes Lorbeerblatt, Weltmeister 1990. Aber Mill braucht das nicht zum Angeben oder als ständige Erinnerung. "Das steht irgendwo im Keller, ich hänge das nicht an die Wand", sagt er. "Und als Weltmeister fühle ich mich ohnehin nicht. Auch wenn ich 1990 zum Team gehört habe und bei allem dabei war. Aber ich habe ja nicht gespielt. Von daher ist die Olympia-Bronzemedaille nach dem 3:0 gegen Italien für mich mehr wert als der WM-Titel."
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Verpassten Chancen nachzutrauern, das ist nicht Mills Sache. Aber eine Entscheidung bereut er aus heutiger Sicht schon. "Ich hatte 1984 ein Angebot von Hellas Verona. Die wollten damals Hans-Peter Briegel und mich verpflichten." Briegel ging nach Italien, Mill sagte ab. "Meine Frau war schwanger mit dem zweiten Kind, ich bin heimatverbunden. Also blieb ich in Gladbach." Stattdessen verpflichtete Hellas neben Briegel den Dänen Preben Elkjaer Larsen. "Er wurde Torschützenkönig, Hellas Meister." Ein Jahr später fragte der AC Mailand an, Mill sagte wieder ab. "Das ist das Einzige, was mir in meiner Karriere Leid getan hat."
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Was es in der ersten und zweiten Liga auch nicht mehr gibt, normalerweise: Dass ein Spieler 40 Tore in einer Saison macht, wie Mill für Essen. "Da hatte Willi ‚Ente' Lippens aber schon sehr für mich gespielt, er war damals Mitte 30. Der hat den Torwart auf der Linie ausgespielt und mir dann den Ball zurückgespielt, damit ich ihn reinmachen kann. Wenn du heute so spielen würdest, würden sie dich mit Ball über die Tribüne hauen. Zeiten haben sich verändert. Die Spieler laufen heute auch drei Mal so viel wie wir früher." Ob Dortmund in dieser Saison den Bayern gefährlich werden kann? Mill kickt dort noch in der Traditionsmannschaft. "Das wird schwer. Dass Dortmund oben mitspielen wird, ist klar. Aber die Bayern werden in dieser Saison nicht viele Gegentore kassieren." Und mit Prognosen hält er sich auch lieber zurück. "Im letzten Jahr habe ich gesagt: Was willst du mit Tuchel? Und dann holt der Mann 78 Punkte."

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