Der gefährlichste Gegner

Trier · "Ich brech\' dir beide Beine": Diesen Satz hat Nationalspieler Olaf Thon einst vor seinem ersten Bundesligaspiel von Gegenspieler Uli Borowka zu hören bekommen. Letzterer war als "die Axt" berüchtigt - und als schwerer Trinker. Borowka hilft nun anderen Sportlern, die Sucht zu besiegen.

Trier. Es liest sich wie der zuckersüße amerikanische Traum, nur mit sauerländischem Zungenschlag: Ein Junge aus eher schlichten Verhältnissen, selten der Beste auf dem heimischen Bolzplatz, aber ehrgeizig, willensstark. Er wühlt sich durch die Amateur-Niederungen, lässt die talentierteren Kicker hinter sich - und schafft es in die Bundesliga. Er beißt sich in die Nationalmannschaft, wird Deutscher Meister und Europapokalsieger mit Werder Bremen. "Die Axt" nennen ihn die Kollegen, halb ehrfürchtig und halb verängstigt. Vor seiner 250-Quadratmeter-Villa parken drei schicke Autos. Nach der Arbeit warten die Frau und zwei liebe Kinder. Und wenn sie nicht gestorben sind …
Uli Borowka wäre fast gestorben. Und Frau, Kinder, Villa verabschiedeten sich aus seinem Leben. "Ich stand mit eineinhalb Beinen im Grab", sagt der 52-Jährige im Gespräch mit dem TV über die damalige Zeit Mitte und Ende der 90er. Denn hinter der Fassade hatte ihn, den giftigsten Verteidiger der Liga, längst der Alkohol abgegrätscht. "Es gibt so viele Dinge, bei denen ich mir denke: Das kann doch nicht wahr sein", berichtet Borowka. Er baute im Vollrausch schwere Autounfälle, lieferte sich wilde Schlägereien. Er versuchte, sich umzubringen. Und trank weiter.
Whisky, Wodka, Kiste Bier


Das hatte er trainiert, der gelernte Maschinenschlosser. Schon während seiner Profikarriere in Mönchengladbach und Bremen. "Ich habe oft bis drei Uhr morgens gesoffen. Teilweise hatte ich ein Tagespensum von einer Kiste Bier, einer Flasche Whisky, einer Flasche Wodka und obendrauf noch Magenbitter", erinnert er sich. "Wenn man dann überlegt, dass ich am nächsten Morgen um 10 Uhr der erste auf dem Trainingsplatz war, dann weiß man, dass mein Körper in der Lage war, den Alkohol brutalst schnell abzubauen. Und das über 16 Profijahre." Helfen durfte ihm damals niemand. Trainer Otto Rehhagel bot ihm nach einem Alkohol-Blackout samt verpasstem Training mal eine alternative Diagnose an: Magen-Darm-Grippe. Für die neugierige Journaille.
Seine Rüstung wurde sein Kerker. "Ich war der härteste Abwehrspieler der Bundesliga, in allen Belangen vorne. Mich hat überhaupt nicht interessiert, was andere Menschen gesagt haben. Ich bin wie eine Dampfwalze über deren Meinungen und Gefühle gerast."
Der Alkoholnebel ist längst verzogen. Seit 14 Jahren hat Borowka, sechsfacher Nationalspieler, keinen Tropfen mehr angerührt. Alte Freunde aus Gladbacher Zeit hatten dem Sauerländer im Jahr 2000 einen Platz in einer Entzugsklinik besorgt. Vier Monate, "eine harte Zeit". Aber draußen wurde es anfangs nicht leichter. "Es ist brutal, wieder zurückzukommen. Im normalen Leben bist du überall vom Alkohol umgeben", sagt Borowka. Er lauert im Kuchen, im Hustensaft, im Schokoriegel. Der Ex-Profi kehrte nach der Therapie gleich an die Theke zurück, er zapfte in der Kneipe der Eltern - aber nie mehr für sich. "Ich bin bis ans Lebensende gefährdet", sagt Borowka. "Aber ich habe viel erlebt. Ich weiß, was ich möchte und was ich nicht mehr möchte. Dazu zählen die grausigen Jahre, mit denen ich abgeschlossen habe."
Borowkas Biografie, die er gemeinsam mit Autor Alex Raack verfasst hat, wurde zum großen Erfolg. Wahrscheinlich, weil er gnadenlos offen ist. Weil er so schonungslos zu sich ist, wie er es auf dem Platz zum Gegenspieler war. Und wohl auch, weil er längst kein Einzelfall ist. Nach Erscheinen des Buches meldeten sich etliche Sportler bei ihm.
Mit dem Resultat, dass der passionierte Golfer im vergangenen Jahr die "Uli Borowka Suchtprävention und Suchthilfe" gegründet hat, einen gemeinnützigen Verein. Es sei noch sehr viel zu tun. Laut einer nicht repräsentativen Umfrage der internationalen Spielervereinigung FIFPro hat jeder fünfte aktive Fußballprofi ein Alkoholproblem, bei den ehemaligen sogar jeder dritte. "Es wenden sich viele an mich, weil ich die gleichen Sachen durchgemacht habe", sagt Borowka. "Und eins ist klar: Wenn sich ein suchtkranker Spieler an seinen Verein oder die Öffentlichkeit wendet, dann wird sein Vertrag zerrissen." Und Alkohol ist nicht die einzige Sucht. "Die Spielsucht nimmt immer mehr zu. Sie übertrifft in der Smartphone-Generation alle anderen Süchte", sagt Borowka.
Seine Vergangenheit am Abgrund war ihm Warnung genug. "Ich stehe wieder mit beiden Beinen im Leben und bin mit meinen Gefühlen im Reinen", sagt er. "Vielleicht musste ich erst am Boden liegen, um das zu erkennen."

Uli Borowka liest auf Einladung des Fanprojekts Trier aus seinem Buch "Volle Pulle. Mein Doppelleben als Fußballprofi und Alkoholiker". Termin: 10. September, 19.05 Uhr, Exhaus-Balkensaal Trier.
Extra

Alkohol und Profifußball - die Liste ist endlos, hier nur einige Beispiele von Spielern mit langer Alkoholkarriere: Gerd Müller, der einstige Bomber der Nation, ist seit über 20 Jahren trockener Alkoholiker. Trinker Paul "Gazza" Gascoigne (47) beherrschte in den vergangenen Tagen wieder die Schlagzeilen der englischen Boulevardpresse. Brasilien-Star Garrincha hatte sich totgesoffen. Auch sein Landsmann Socrates starb 2011 an den Folgen jahrelangen Alkoholmissbrauchs. Ex-England-Kapitän Tony Adams veröffentlichte 1998 ein Buch über seine Sucht. Der nordirische Manchester-United-Star George Best war nicht nur ein genialer Fußballer und Lieferant von Bonmots ("1969 habe ich Frauen und Alkohol aufgegeben. Es waren die schlimmsten 20 Minuten meines Lebens.") - er starb mit 59 Jahren infolge seines jahrzehntelangen Alkoholismus. Seine Botschaft auf dem Sterbebett: "Sterbt nicht wie ich." AF

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