Marathon über schwarz-weiße Felder

Trier · Am vergangenen Wochenende fand ein Bundesliga-Spiel in Trier statt, von dem kaum jemand wusste: Vier Teams der Schach-Bundesliga traten gegeneinander an. Topspiele über jeweils sieben Stunden, ohne Doping, mit wenigen Fans, in vollkommener Stille.

 Haare raufen und Kaffee trinken – Schach erfordert viel Geduld und Konzentration. Ein Spiel kann schon mal bis zu sieben Stunden dauern. TV-Fotos (2): Stefanie Braun

Haare raufen und Kaffee trinken – Schach erfordert viel Geduld und Konzentration. Ein Spiel kann schon mal bis zu sieben Stunden dauern. TV-Fotos (2): Stefanie Braun

Foto: (g_sport
 Großmeister Viktor Erdos aus Ungarn spielt für die SG Trier.

Großmeister Viktor Erdos aus Ungarn spielt für die SG Trier.

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Trier. Ein Fauxpas am frühen Morgen: Die Dame, die im Nebenraum Kaffee, belegte Brötchen und Schokoriegel vorbereitet, hat heute morgen zum falschen Paar Schuhe gegriffen. Vielleicht aus Reflex hat sie eines mit Absätzen angezogen. Die Konsequenz daraus: Den Rest des Tages muss sie auf den Zehenspitzen durch den Raum tippeln, wenn sie die Spieler mit dem nötigen Koffein versorgen will. Der Lebenssaft stapelt sich zählbar in Pappbechern auf jedem Tisch, direkt neben Bauer, Läufer und Dame.
Stefan Müllenbruck spricht erst, wenn die Tür zur Mensa des Campus II leise verschlossen wurde. Im Nebenraum kann der 51-jährige Teamkapitän der SG Trier 1877 dann in gewohnter Lautstärke über die Spiele am Wochenende berichten, während nebenan weiter die Köpfe rauchen. Sie spielen in dieser Saison einmal in Trier, am ersten Februar-Wochenende sind die Mannschaften Solingen, Hamburg, Norderstedt und Trier an der Universität zu Gast in den Räumen des Campus II. Am Samstag hat Trier knapp verloren, mit 3,5 zu 4,5. Erneut eine bittere Niederlage.
Seit Jahren spielen sie in der Schach-Bundesliga, der stärksten Liga der Welt, zwar nicht ganz oben, dafür recht konstant im Mittelfeld der 16 Mannschaften aus ganz Deutschland. In dieser Saison müssen sie sich jedoch vor den Abstiegsrängen retten. Am Sonntag spielen sie gegen Norderstedt, das wohl schwächste Team der Liga. Man rechne sich gute Chancen aus, aber beschreien wolle man nichts, sagt Müllenbruck. Jeder Spieler hat seine Wertungszahl (Elo-Zahl), anhand der man seine Spielstärke einordnen könne, aber "gespielt wird immer noch auf dem Brett" und nicht in Statistiken. Und auf dem Brett entscheiden auch Glück, Chancen und die eigene Konzentrationsfähigkeit. "Die Spieler stehen über fünf, sechs, manchmal sieben Stunden unter höchster Konzentration. Nach einem Spiel sind die fertig, als wenn sie einen Marathon gelaufen wären", weiß Mülllenbruck. Schach sei anstrengend und somit ein Sport, auch wenn die Spieler nicht über grünen Rasen laufen würde, sondern praktisch reglos Figuren über schwarz-weiße Felder schieben.
Auch wenn manche den Sportstatus beim Schach belächeln, hat auch diese Sportart bereits mit den Problemen der Großen zu kämpfen: Doping. Aber nicht in Form von Pillen und Spritzen. "Die Spieler müssen vor dem Turnier ihre Handys abgeben", sagt Müllenbruck, fast jedes Smartphone könne mittlerweile ausgeklügelte Schachprogramme fahren. Gegen die müsse selbst er sich oft geschlagen geben. Verschwindet ein Spieler mit seinem Handy auf der Toilette, bestehe sofort Verdacht, dass er sich Inspiration zu entscheidenden Zügen aus einer App gezogen haben könne. An diesem Wochenende würde eine Schiedsrichterin dann entscheiden, ob der Spieler gesperrt wird oder nicht. Der Ruf wäre auf jeden Fall ruiniert. In Trier halten sich die Spieler mit anderen Mitteln konzentriert: Schokoriegel, Kaffee, ab und an vom Stuhl aufstehen und zwischen den Tischen hin und her laufen.
Auf den ersten Blick passiert nicht viel in der Mensa: vier Teams, acht Bretter, je zwei Spieler. 40 Züge müssen sie in den ersten zwei Stunden machen, pro Zug sind das durchnittlich drei Minuten Bedenkzeit. Doch ein Zug kann auch wesentlich länger dauern.
Der 15-jährige Nils ist einer von wenigen, stillen, geduldigen Zuschauern, er spielt selbst seit zwei Jahren Schach in der B-Klasse. Das sei sehr weit entfernt von dem Status, in dem die Turnierteilnehmer spielen. Nils schaut sich an diesem Wochenende Tricks und Kniffe von den Großen ab. "Die haben Züge im Kopf, auf die man selbst gar nicht kommen würde", sagt er. Auch der 62-jährige Willi Lange ist extra aus München angereist. Seit vielen Jahren verfolgt er den Trierer Verein, oft auch übers Internet: "Jedes der Bretter ist verkabelt, die Züge werden zeitversetzt übers Internet veröffentlicht." Er kann die Spiele zuhause in München nachspielen und noch etwas lernen.
In Trier reibt sich mancher den Kopf, ein anderer rauft sich die Haare, ein nächster wippt nervös mit den Beinen. Ab und an zieht eine Karawane an den Tischen vorbei zum Kaffee: Der ist als "Dopingmittel" legal.
Das Spiel gegen Norderstedt hat Trier 7:1 gewonnen und damit Tabellenplatz 11 gesichert.

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