Warum Angst lieber fliegt als fährt

TRIER. "Das ganze Leben ist ein Quiz – und wir sind nur die Kandidaten", sang Hape Kerkeling einst. Dabei macht sich der eine im Leben mehr, der andere weniger Sorgen. Der renommierte Risikoforscher Prof. Ortwin Renn sagt im TV, ob sich eigene Ängste mit der Statistik decken.

Der eine sagt: Sterben muss ich sowieso. Egal, wie ich lebe. Der andere denkt: Aber warum früher als nötig? Der dritte doziert Kette-rauchend über schlimme Farbstoffe in der Erdbeer-Marmelade. Der nächste rast mit dem Auto durch die Weltgeschichte, weil er höllische Flugangst hat. Menschen schätzen Risiken fast immer falsch ein. "Manches wird unter-, anderes überschätzt", sagt Risikoforscher Prof. Ortwin Renn (53), promovierter Soziologe an der Universität Stuttgart. "Alle Gefahren, die ich nicht schmecken, sehen, fühlen oder hören kann, werden als wesentlich schwerwiegender eingestuft als die Risiken, von denen ich glaube, dass ich sie sensorisch im Griff habe." Renn packt ein Beispiel aus dem Kühlschrank aus: "Chemische Konservierungsstoffe oder Rückstände von Pestiziden werden fast immer überbewertet. Von der Statistik her gesehen gibt es - bis auf gewisse allergische Reaktionen - keine negativen gesundheitlichen Auswirkungen. Dagegen werden Schimmel oder Bakterien unterbewertet. Weil wir den Eindruck haben: Das gab es ja schon immer." Ein anderer Aspekt ist das riesige Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. "95 Prozent halten sich für besser als der Durchschnitt. Das kann natürlich nicht sein", sagt Renn. Beispiel: "Jeder weiß, dass fliegen sicherer ist als Autofahren. Dennoch haben die meisten viel mehr Angst im Flugzeug. Eine Ursache dafür: Man ist darauf angewiesen, dass der Pilot das Richtige macht." Wie hoch ist mein Risiko? Prof. Renn antwortet auf Fallbeispiele: Mein Haus ist Asbest-verseucht. Das ist ein geringes Risiko - sofern Sie es nicht umbauen. Asbest ist nur gefährlich, wenn ich ihn in die Luft entlasse. Mein Nachbar ist ein Mobilfunk-Mast. Das Risiko ist geringer, als wenn ich mit dem Handy telefoniere. Die Handy-Strahlung ist tausend Mal höher als die des Mastes. Ich habe stets ein Handy am Ohr. Das Risiko ist kleiner, als dass ich es statistisch nachweisen könnte. Aber es ist nicht null. Das Atomkraftwerk ist nur 50 Kilometer entfernt. Es gibt ein Unfallrisiko eines Atomkraftwerks. Das ist sehr unwahrscheinlich, aber nicht null. Der Normalbetrieb des Kernkraftwerks ist mindestens so risikolos wie der Mobilfunk-Mast.Ich fahre gern Motorrad. Das ist eine der Fortbewegungsarten mit der höchsten Unfallrate. Das Unfallrisiko ist aber vergleichbar mit Sportarten wie etwa Fußball. Mein Auto fährt 210. Mit mir. Wir haben in Deutschland jährlich 6000 Verkehrstote. Wenn man viel und schnell fährt, kann man eher dazugehören. Drei Zigaretten vor dem Frühstück? So viel Zeit muss sein. Rauchen gehört zu den größten Risiken, die wir überhaupt haben. Nach den optimistischsten Schätzungen gibt es in Deutschland 40 000 Tote durch das Rauchen, Pessimisten sprechen von 180 000. Realistisch sind wohl 80 000 bis 100 000 Tote. Mein Kollege ist Passivraucher. Das ist ein erhebliches Risiko. Die Zahl der Toten liegt in etwa der gleichen Höhe wie die der Verkehrstoten. Man rechnet mit etwa zehn Prozent der Anzahl der toten Raucher. Ich trinke gerne Alkohol. Täglich ein Glas Rotwein kann positiv sein. Ab zwei Gläsern kippt die Balance - dann überwiegen die negativen Aspekte. Wenn Sie regelmäßig viel Alkohol trinken, ist das Risiko eines Leberschadens sehr groß.Ich fliege viel. Das Hauptrisiko ist nicht der Absturz, sondern die kosmische Strahlung und - wichtiger noch - der Stress, den ich meinem Körper zumute. Das führt zu vorzeitiger Alterung. Piloten haben also eine kürzere Lebenserwartung. Aber nicht wegen der Unfälle. Ich arbeite viel im Haushalt. Es ist zwar richtig, dass die meisten Unfälle im Haushalt passieren - aber wir halten uns auch die meiste Zeit im Haus auf. Von daher ist das eine schiefe Statistik. Wenn ich nicht gerade auf wackligen Leitern Fenster putze, ist das eine sichere Sache.Erwischt mich die Vogelgrippe? Wenn die sich auf den Menschen übertragen sollte, ist es schlimm. Dass es dazu kommt, ist sehr unwahrscheinlich. Ich habe Angst vor einem Terroranschlag. Das ist sehr real. Die Wahrscheinlichkeit ist allerdings gering, dass man selbst davon betroffen sein wird. Bekomme ich BSE? Da ist ein ganz geringes Risiko. In den vergangenen 25 Jahren gab es maximal 140 Tote.Ich habe Angst vor Aids. Da kann man sich schützen. Weltweit ist das Risiko sehr hoch - jeden Tag sterben weltweit etwa 8000 Menschen an Aids. In Deutschland haben wir knapp 1000 Aids-Tote pro Jahr. Das ist eine höhere Zahl als bei den meisten Infektionskrankheiten - mal abgesehen von Grippe. Ich esse gern rohe Eier. Die Salmonellen-Gefahr ist mittel bis hoch. Es hängt immer davon ab, woher die Eier kommen. Vor allem bei ausländischen Eiern wäre ich sehr vorsichtig. In Europa gibt es pro Jahr 12 000 Salmonellen-Tote.Ich brutzle gern in der Sonne. Das ist ein großes Risiko, wenn ich nicht geschützt bin. Das Hautkrebs-Risiko ist hoch, wenn ich mehrfach hintereinander Sonnenbrand habe.

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