Wenn Schlucken zum Problem wird
Trier · In Deutschland sind in jedem Jahr Millionen Menschen neu betroffen. Sie erleben, wie schwierig es ist, wenn ein angeborener Reflex neu antrainiert werden muss.
Hildegard Kolle war immer eine äußerst disziplinierte und sportliche Frau. Dass ihr Leben an jenem 20. Oktober 2016 an einem seidenen Faden hing, als sie im Schlaganfallzentrum des Brüderkrankenhauses aufgenommen wurde, hat die 66-Jährige erst Wochen später realisiert. "Erst als ich den Entlassungsbericht gelesen habe, wurde mir klar, wie schlimm es um mich stand", sagt die Frau aus der Eifel, die sich den Ruf als Musterpatientin erarbeitet hat.
Wie die Hälfte aller Schlaganfallpatienten, so litt auch Hildegard Kolle an schweren Schluckstörungen. "Ich konnte in den ersten vier Wochen nichts zu mir nehmen", erinnert sich die Frau. "Das Schlucken wieder zu lernen ist eine Wahnsinnsarbeit. Aber ich habe mir immer kleine Ziele gesetzt und mit Disziplin und Bravour geübt."
Schlucken ist ein angeborener Reflex, der bei jedem gesunden Menschen täglich bis zu 2000 Mal automatisch abläuft. Wenn dieser Reflex stark gestört ist oder ganz verloren geht, werden nicht nur Essen und Trinken schwierig bis unmöglich. Gleichzeitig steigt die Gefahr des Verschluckens und Einatmens von Nahrung. Erstickungsanfälle und Lungenentzündungen können Folgen sein.
Bundesweit sind nach Angaben des Bundesverbandes für Logopädie in jedem Jahr etwa zwei Millionen Menschen neu von Schluckstörungen betroffen. Bei Erwachsenen sind es oft Folgen neurologischer Erkrankungen wie Demenz, Multiple Sklerose, Parkinson oder Schädel-Hirn-Traumata. Der Europäische Tag der Logopädie (siehe Info) weist heute darauf hin, dass mit einer gezielten Therapie viel gegen die Einschränkungen getan werden kann.
"Schluckbeschwerden sind häufig heilbar", sagt Eva Croyé. Die Leiterin der Logopädieabteilung im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Trier berichtet von einer steigenden Zahl der Betroffenen. "Wir sind inzwischen etwa zur Hälfte mit dem Thema Schluckstörungen befasst."
Besonders im Stroke-Unit der Klinik sind Croyé und ihre vier Kolleginnen gefragt. In dieser Spezialstation geht es um die möglichst schnelle Hilfe nach einem Schlaganfall und die Intensivüberwachung neurologischer Patienten. Für die Logopädinnen steht dabei immer ein Schlucktest am Beginn der Therapie. Wie sämig oder breiig muss die Kost sein, damit die Patienten sie schlucken können? "Die Ernährung hat Vorrang", erläutert auch Mechtild Behrens-Schmitz, die sich seit zehn Jahren ausschließlich mit neurologischen Patienten beschäftigt. "Wir arbeiten im Mund und stimulieren mit Schleimhautkontakt. Das geht, weil der Würgereflex der Patienten reduziert oder ganz ausgeschaltet ist." Auch die Zunge ist häufig nach einem Schlaganfall nicht mehr voll funktionsfähig und muss trainiert werden.
Wie das ist, und wie es gelingt, mit Sprechübungen die Kehlkopfmuskulatur zu aktivieren, weiß aus eigener Erfahrung auch Musterpatientin Hildegard Kolle. Sie erzählt auch davon, wie schwierig und anstrengend der Weg zurück zur Normalität sein kann. "Wenn es darum geht, einen Arm zu beugen, weiß man, was zu tun ist. Aber holen Sie mal den Kehlkopf nach oben! Man weiß einfach nicht, wie etwas geht, wenn es davor automatisch funktioniert hat." Intensives Training, oft dreimal täglich. Das gehört bis heute zu ihrem neuen Leben. "Es war eine Wahnsinnsarbeit, aber es hat sich gelohnt", sagt die 66-Jährige. Wie viele Patienten musste die 1,80 Meter große und sehr schlanke Frau zunächst vorübergehend künstlich ernährt werden. Nach dem Schlaganfall verlor sie sieben Kilogramm Körpergewicht. Aber nach sechs Wochen, kurz vor ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus, konnte sie sich wieder komplett auf natürlichem Weg ernähren.
Nicht bei allen Patienten funktioniert das so gut. "Die Beratung der Angehörigen ist ein wichtiger Teil unserer Arbeit", sagt Eva Croyé, die im Bereich der Senioren eine große Dunkelziffer von behandlungsnotwendigen Schluckbeschwerden vermutet. Im Gespräch mit den Angehörigen geht es um Dinge wie die richtige Kostform, geeignete Lebensmittel oder das Andicken von Getränken. Eine aufrechte Körperhaltung und eine leichte Beugung des Kopfes nach vorne sind ebenfalls wichtige Tipps für Menschen mit Schluckbeschwerden. Vermieden werden sollten Schnabelbecher.
Hildegard Kolle hat inzwischen wieder fast ihr Normalgewicht erreicht. "Jede Mahlzeit war für mich richtig viel Arbeit", sagt sie. Das Schlucken von Flüssigkeiten sei zwar noch immer mühsam. "Aber die Zeiten, in denen ich für einen kleinen Becher Joghurt acht Minuten gebraucht habe, sind zum Glück vorbei."
Tipp: Gelegentliches Verschlucken ist normal. Wenn es immer häufiger zu Schwierigkeiten beim Essen und Trinken oder beim Schlucken des Speichels kommt, sollte ärztlicher Rat eingeholt werden. Mit einer rechtzeitigen Therapie können schwerwiegende gesundheitliche Folgen häufig vermieden werden.
Extra: EUROPäISCHER TAG DER LOGOPäDIE
Unter dem Titel "Schlucken - lebenswichtig und nicht immer selbstverständlich" informiert der Bundesverband für Logopädie heute mit einer Expertenhotline von 17 bis 20 Uhr zu diesem Thema, Telefon 01805/353532 (14 Cent/Min. Festnetz; max. 42 Cent aus den Mobilfunknetzen). Im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder,Trier, informieren und beraten heute von 11 bis 15 Uhr Expertinnen der Abteilung für Logopädie im Foyer der Klinik zum Thema Schluckstörungen im Erwachsenenalter. Zeitgleich steht auch eine telefonische Beratung unter 0651/208-2524 zur Verfügung. Anmeldung ist nicht erforderlich.