Abschied mit Blutgrätsche

BERLIN. Friedrich Merz' letzter Streich, seine heftigste und wohl kalkulierteste Attacke bei der gestrigen Debatte zum Nachtragshaushalt 2004 und dem Haushalt 2005 lautete: "Jedes Kind kommt heute mit 16 500 Euro Schulden auf die Welt. Sie hängen schon kleinen Kindern schwere Mühlsteine um den Hals!"

Seine verbalen Blutgrätschen sind bewusste Provokationen, da steigt der Adrenalinspiegel des CDU-Mannes Merz und der seiner Gegner gleichermaßen. Dieser harsche Angriff - und eine ganze Reihe anderer - galt allerdings nicht nur der rot-grünen Koalition, sondern diesmal auch den eigenen Leuten: Die Unionsfraktion, insbesondere die Vorsitzende Angela Merkel, sollte sehen und hören, was sie an dem Sauerländer mit der scharfen Zunge verliert. Minutenlang fiel der Applaus der Opposition für den provokanten, selbstbewussten und manchmal überheblich wirkenden Redner aus, der prompt Schwierigkeiten hatte, die Fassung zu wahren. Schon vor der Debatte landete der Hüne einen kleinen Coup, in dem er Finanzminister Hans Eichel (SPD) auflaufen ließ: Der Finanzexperte, der nach internen Querelen zum 1. Dezember sein Amt als Fraktionsvize abgeben wird und beim CDU-Parteitag in anderthalb Wochen nicht mehr für das Präsidium kandidieren will, nahm für seine letzte Rede als Führungskraft das Recht in Anspruch, noch vor dem Ressortchef zu sprechen. Wer vorlegt, hat es leichter als der, der aus der Defensive heraus nachlegen muss - das gilt vor allem für Eichel, der selbst in den eigenen Reihen mit seinen Zahlenwerken mehr Ratlosigkeit und Verdruss denn Hoffnung hinterlässt. "Sie sind völlig blind für das, was ihre eigenen Länderregierung machen", versuchte Eichel den Gegenangriff. 2005 würden fünf Bundesländer keinen verfassungskonformen Haushalt vorlegen - neben Bremen und Berlin "drei der Union: Hessen, Niederdachsen und das Saarland", wetterte Eichel. Merz hatte dem Minister zuvor überaus agressiv "die asozialste Politik, die in Deutschland jemals gemacht worden ist", vorgeworfen. Er mache neue Schulden in Rekordhöhe und verschleudere Vermögen des Bundes. Mit dem Nachtragshaushalt über 43,5 Milliarden Euro neue Schulden verantwortet Eichel in der Tat die höchste Nettokreditaufnahme, die es in der Bundesrepublik je gegeben hat. Der Haushalt 2005 sieht bei einem Ausgabenvolumen von 254,3 Milliarden Euro eine Neuverschuldung von 22 Milliarden Euro vor. Bis jetzt. Denn auch im kommenden Jahr scheint ein Nachtragshaushalt unumgänglich. 15 Milliarden Euro ist die Lücke angeblich groß, weil die Grundannahme zum Wachstum (1,7 Prozent) und die erwartete, durchschnittliche Zahl der Arbeitslosen (4,33 Millionen) sich nicht halten lassen. Hinzu kommt, dass selbst Koalitionäre die eingestellten Privatisierungserlöse von 17,2 Milliarden Euro für nicht realisierbar halten. Die Union will deshalb nicht mehr nur gegen den Nachtragshaushalt 2004, sondern nun auch gegen den Haushalt 2005 vor das Verfassungsgericht ziehen. Eine Entscheidung der Karlsruher Richter dürfte aber Jahre auf sich warten lassen, wie die Erfahrung zeigt: 1981 saß die sozial-liberale Koalition auf der Anklagebank. Erst acht Jahre später entschieden die roten Roben zu Gunsten der Regierung.

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