Alles oder nichts
Selten steht Deutschland so im Rampenlicht wie während seiner EU-Ratspräsidentschaft in den ersten sechs Monaten dieses Jahres, selten hängt so viel vom politischen Geschick der Bundesregierung ab.
Die Erwartungen an das größte Land der Europäischen Union sind enorm. Die Verantwortung ist riesig. Im Fokus steht vor allem die EU-Verfassung. Wenn der deutsche Vorstoß zur Rettung dieses wichtigen Vertragswerks scheitert, ist es ein für allemal tot. Das "Nein" bei den Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden hatte den Verfassungsprozess Anfang 2005 vorerst gestoppt. 18 Staaten haben dem Text zugestimmt, sieben sich noch nicht erklärt. Deutschland steht vor der Herausforderung, die widerstreitenden Positionen zu versöhnen. Eine schwierige Aufgabe: Den Nein-Sagern denselben Text noch einmal vorzulegen, ist aussichtslos. Als ebenso undenkbar gilt, das mühsam errungene Kompromisspaket komplett wieder aufzuschnüren. Der Verfassungsvertrag sieht unter anderem vereinfachte Abstimmungsverfahren vor - ob er erneut auf den Weg gebracht werden kann, entscheidet über nicht weniger als die Handlungsfähigkeit der auf mittlerweile 27 Mitglieder angewachsenen Union. Entscheidend für die Zukunft der Europäischen Einheit ist auch das Ansinnen der Bundesregierung, neue Visionen zu vermitteln. Dazu will Kanzlerin Angela Merkel im März, wenn der 50. Jahrestag der Gründung der Union gefeiert wird, eine "Berliner Erklärung" vorlegen. Frieden, offene Grenzen, Binnenmarkt: Die Ideen, die die EU groß werden ließen, sind selbstverständlich geworden. Was kann an ihre Stelle treten? Auch das ist eine schwierige Frage, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Die Bundesregierung hat die Chance, diese Prozesse entscheidend voranzubringen. Gelingt ihr das, erweist sie nicht nur Europa einen kaum zu überschätzenden Dienst. Sie stärkt auch das politische Gewicht Deutschlands. Doch mit jeder Chance verbunden ist das Risiko des Scheiterns. Bleibt der deutschen Präsidentschaft der Erfolg versagt, stürzt Europa in eine existenzielle Krise. Alles oder nichts - dazwischen bleibt wenig Raum. i.kreutz@volksfreund.de