Auf der Klaviatur des Klassenkämpfers

BERLIN. Franz Müntefering hat seine Kapitalismus-Kritik fortgesetzt – und auch Teile der Opposition springen nun auf den Zug "Marktradikal und asozial".

Franz Müntefering ging gestern auf Nummer sicher. Normalerweise spricht der SPD-Fraktionschef im Bundestag weitgehend frei. Diesmal las er bei der von der FDP beantragten aktuellen Stunde Wort für Wort vom Blatt ab. Selbst von Zwischenrufen ließ sich der streitbare Genosse nicht irritieren - zu heikel war das Thema, zu hitzig ist die momentane Debatte um die Kapitalismus-Schelte des SPD-Vorsitzenden. Da kommt es auf Genauigkeit an, jeder Satz muss gut überlegt sein und sitzen. Wer jedoch geglaubt hatte, Müntefering würde seine Attacken auf die Wirtschaft relativieren, der wurde enttäuscht. Er legte nach: "Marktradikal und asozial" sei es, wenn Unternehmer nur noch den Vorteil weniger im Sinn hätten. Erneut spielte der Genosse auf der Klaviatur des Klassenkämpfers - und seine Fraktion dankte es ihm mit viel Beifall. Ohnehin hat der Sauerländer mit seiner Klage über mangelnde unternehmerische Moral, mit seiner herben Kritik an Finanzinvestoren, die wie "Heuschrecken" über Unternehmen her fielen, den Nerv der Not leidenden SPD getroffen. Denn niemand aus dem eigenen Lager mag dem "Überzeugungstäter", so ein roter Abgeordneter, widersprechen. Öffentliche Distanzierungen gab es zudem weder vom Genossen der Bosse (Kanzler Schröder), noch von Wirtschaftsminister Wolfgang Clement. Manch einer sieht in der "überfälligen" Kritik Münteferings aber nicht nur den Versuch, den Wahlkämpfern in Nordrhein-Westfalen auf den letzten Metern einen Schub zu geben. Es gibt Beobachter, die davon ausgehen, dass Münteferings Diskurs eine Absetzbewegung vom Kanzler sein könnte und womöglich die SPD auf eine "Rolle rückwärts" vorbereiten soll, wenn Schröders Reformkurs nicht bald fruchtet. Immer mehr Firmen, so Müntefering im Plenum, ersetzten deutsche Arbeitnehmer durch billige ausländische Scheinselbstständige. Wegen weniger Prozente siedelten Unternehmen ins Ausland um und ließen die Arbeitnehmer und ihre Familien im Stich. Kleine Unternehmen hätten Probleme, Kredite von Banken und Sparkassen zu erhalten, die Managergehälter stiegen ins Unermessliche. "Die Debatte ist fällig. Bei der Debatte darf es aber nicht bleiben", forderte Müntefering. FDP-Chef Guido Westerwelle hielt dem Sozialdemokraten vor, Stimmung zu machen auf Kosten von Arbeitsplätzen, da er Investoren abschrecke. Die harschen Attacken auf seine Person verfolgte Müntefering mit starrer Miene. CSU-Wirtschaftsexpertin Dagmar Wöhrl sagte dagegen: "Wir haben kein Marktversagen, sondern ein Staatsversagen." Der Boykottaufruf der SPD-Politikerin Ute Vogt könne zudem für viele Unternehmen "der letzte Todesstoß" sein. Gleich mehrere Unionspolitiker zeigten sich einer Debatte über die Verantwortung der Wirtschaft aufgeschlossen. So meinte Gerald Weiß (CDU): "Wenn Gier grenzenlos ist und die Rendite zum goldenen Kalb wird, dann muss das angeprangert werden." Verwundert haben dürfte Müntefering der Sprung auf den Zug von Teilen des Oppositionslagers nicht - laut einer Umfrage halten schließlich zwei Drittel der Bundesbürger seine Kritik an der Wirtschaft für berechtigt.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort