Bittere Pillen

Wer die Erwartung hegte, die Gesundheitsreformer von Koalition und Opposition könnten nach ihren erstaunlich diskret geführten Verhandlungen ein Patentrezept präsentieren und das angeschlagene Gesundheitssystem zur Zufriedenheit aller Beteiligten kurieren, hat die Dimension des Problems verkannt. Zaubern kann Harry Potter, nicht aber Ulla Schmidt oder Horst Seehofer. Gleichwohl haben die Chef-Unterhändler der Parteien und Fraktionen ein Reformpaket geschnürt, das sich sehen lassen kann. Es ist vor allem deshalb akzeptabel, weil es die Hoffnung nährt, die geplanten Maßnahmen könnten die Kostenflut eindämmen und zumindest ansatzweise verkrustete Strukturen verändern. Und doch: Es sind bittere Pillen, welche die große Koalition aus SPD, Union, Grünen und FDP den Patienten in Deutschland verabreichen will. Das im internationalen Vergleich teure, aber auch sehr gute Gesundheitssystem wird für die Bürger noch teurer werden. Weil indes das aus wirtschaftlichen Gründen notwendige Zurückführen der Beitragssätze nicht mit Leistungsbeschränkungen bezahlt werden soll, muss der Preis eben an anderer Stelle erhoben werden. Er setzt beim Portemonnaie der Bürger an und wird "Zuzahlung" genannt. Auf deutsch: Krank werden und krank sein wird in Zukunft (noch) mehr kosten als bisher. Für den Einzelnen bis zu zwei Prozent seines Brutto-Einkommens. Jammern nützt in diesem Zusammenhang überhaupt nichts. Angesichts der Fakten und Daten, einer immer älter werdenden Gesellschaft, und dem immensen Fortschritt der Medizin wäre ohne Einschnitte in das System die Verdoppelung der Gesundheitskosten in den nächsten 20 Jahren zwangsläufig. Und da aus ethischen, sozialen und politischen Gründen kein Bürger, sei er sehr jung oder sehr alt, einem theoretisch denkbaren System der Selektion zum Opfer fallen darf, bleibt nur die Alternative der Umfinanzierung. Natürlich in Verbindung mit dem stetigen Bemühen, die Effizienz des Gesundheitssystems kontinuierlich zu verbessern. In Ermangelung besserer Vorschläge wird sich die Kritik an dem keinesfalls optimalen Entwurf der Reformer jedenfalls in Grenzen halten müssen. Zu fragen ist allerdings, warum die Leistungserbringer besser wegkommen als die Patienten, und etwa auf die seit Jahren diskutierte Positivliste nun doch verzichtet wird. Problematisch ist sicherlich auch die Herausnahme des Zahnersatzes aus dem Leistungskatalog: Es wächst die Gefahr, dass die soziale Herkunft künftig (wieder) am Gebiss abzulesen sein wird. Auf der anderen Seite haben die Reformer eine Fülle von Vereinbarungen getroffen, vom Institut zur Qualitätssicherung über die Fortbildungspflicht für Ärzte bis zum Wettbewerb bei Apotheken, die zur Stabilisierung und Verbesserung des Systems beitragen können. Allen Mäkeleien zum Trotz: Politisch ist die Einigung der Parteien durchaus positiv zu würdigen. Das sensible Thema Gesundheit taugt nur bedingt für parteipolitisches Gezänk, und es war und ist zweifellos im Interesse der gesamten Gesellschaft, dass ein tragfähiger Kompromiss gefunden wurde. Die informelle große Koalition hat, wie bereits 1992 in Lahnstein, funktioniert. Das lässt hoffen für künftige Verhandlungen zum Dauerproblem Gesundheitssystem - das uns zeitlebens begleiten wird. nachrichten.red@volksfreund.de

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