Bürger-Präsident

Fast ein Jahr nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten ist Horst Köhler für viele Bürger nach wie vor ein unbeschriebenes Blatt.

Fast ein Jahr nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten ist Horst Köhler für viele Bürger nach wie vor ein unbeschriebenes Blatt. Doch im persönlichen Kontakt, davon konnten sich zumindest einige Rheinland-Pfälzer bei seinem Antrittsbesuch überzeugen, sammelt der welterfahrene Wirtschaftswissenschaftler aus Baden-Württemberg zweifellos Pluspunkte. Selbst wenn er nicht der große Kommunikator ist wie sein Vorgänger Johannes Rau oder joviale Züge an den Tag legt wie Roman Herzog, Köhler kann unbefangen zuhören und Dinge beim Namen nennen, ohne gleich in Politiker-Deutsch zu verfallen. Insgesamt hebt sich dieser Präsident von seinen Vorgänger darin ab, dass er nicht in der politischen Klasse verwurzelt ist, selbst wenn er über viele Jahre gelernt hat, mit ihr umzugehen. Bei seiner Gratwanderung als oberster Repräsentant des Staates entlang der auferlegten Enthaltsamkeit in der aktuellen politischen Auseinandersetzung hat ihm dies allerdings die Kritik eingebracht, zu deutlich Stellung zu nehmen. Sein Appell, den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit weiter zu verstärken, ist durchaus als Aufforderung zu werten gewesen, sich zu dem parteiübergreifenden Spitzengespräch von Regierung und Union zusammenzufinden. Köhler ist souverän genug, keine Parteibrille aufzusetzen. Gute Voraussetzungen also, sich bei aller Zurückhaltung als Präsident der Bürger ein offenes Wort vorzubehalten und den Blick von außen zu bewahren. Im täglich zunehmenden politischen Hickhack und Wortgetöse verleiht diese Unabhängigkeit besonderes Gewicht. Von einem Bundespräsidenten darf erwartet werden, dass er um diese Rolle des Mahners weiß – und sie auch nutzt. j.winkler@volksfreund.de

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