Bushs Täuschungsmanöver

Eines der größten Rätsel beim Präsidentschaftswahlkampf in den USA auch aus europäischer Sicht ist: Warum liegt der Bewerber der Demokraten, Senator John Kerry, nicht zehn Tage vor der Abstimmung meilenweit in Front?

Wahlen, bei denen sich ein Amtsinhaber für vier weitere Jahre bewirbt, sind ja in erster Linie ein Referendum über die Leistungen des Regierungschefs. Und die Bilanz von George W. Bush trägt wenig Glanz und viel Schrecken. Sein "Kampf gegen den Terror" spiegelt sich seit dem vergangenen Jahr vor allem Horror-Szenen aus dem Irak wider, wobei es dem Präsidenten bis heute nicht gelungen ist, zwischen der Militäraktion und dem Bemühen zur Zerschlagung von El Kaida und der Prävention weiterer Attacken eine schlüssige Verbindung herzustellen. Und wer sich in den USA umsieht, der verspürt kaum Euphorie, sondern sieht derzeit jede Menge düstere Mienen. Die breite amerikanische Mittelschicht der Arbeiter und Angestellten sieht sich mit nur langsam steigenden Löhnen aber explodierenden Kosten konfrontiert. John Kerry hat deshalb Recht, wenn er eine Politik beklagt, die die Reichen nur noch reicher gemacht hat. Zwischen den obersten 20 Prozent des Einkommensspektrums und der übrigen Bevölkerung klafft eine enorme Lücke, die - zusätzlich zur Kriegs-Debatte - eigentlich den Demokraten in die Händen spielen sollte. Doch dies geschieht nicht, und letzten Umfragen zufolge verfügt Bush sogar noch über einen kleinen Vorsprung. Sollte er diesen ins Weiße Haus retten, so liegt das vor allem an der Schwäche Kerrys, der sich in seinen Wahlkampfreden eine besondere Fürsorge für die "middle class" selbst auferlegt hat, jedoch über klare Glaubwürdigkeitsdefizite verfügt. Die Republikaner haben geschickt begonnen, die Demokraten als Partei der reichen und verwöhnten "Elitisten" zu kennzeichnen, während sich die Bush-Freunde mit jeder Menge Chuzpe als Fürsprecher der hart arbeitenden Mittelschicht präsentieren. Das könnte die Wähler am 2. November mehr beeinflussen als die vor allem für das Ausland so bedeutende Frage, wie und unter wessen Führung es denn nun im Irak und im Kampf gegen den Terror weitergehen soll - zumal die Pläne von Kerry und Bush in der Sicherheitspolitik ähnlich sind. George W. Bush verfolgt im Prinzip ein gewaltiges Täuschungsmanöver: Er will ausgerechnet durch die Stimmen jener wiedergewählt werden, die er in der Realität bei Steuervergünstigungen für Bestverdienende und eine Wirtschaftspolitik benachteiligte. Die Umfragen zeigen, dass George W. Bush dieser Coup am Wahltag durchaus gelingen könnte. nachrichten.red@volksfreund.de

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