Der Kassenwart und der neue Berg

BERLIN. Seinem Ruf als Optimist vom Dienst machte Wolfgang Clement gestern wieder alle Ehre. "Es geht weiter bergauf", schwärmte der SPD-Wirtschaftsminister bei der Bekanntgabe der regierungsoffiziellen Wachstumsprognose für 2005.

Die Wirtschaft soll nach Clements Angaben um 1,7 Prozent zulegen. Ursprünglich hatte man mit 1,8 Prozent gerechnet. Aber das überging der Minister geflissentlich. Dabei hält die Mehrheit der führenden deutschen Wirtschaftsinstitute selbst die leichte Korrektur nach unten für geschönt. In ihrem aktuellen Herbstgutachten wird der Zuwachs beim Bruttoinlandsprodukt nur auf 1,5 Prozent veranschlagt. Der grüne Koalitionspartner ist dann auch weniger euphorisch. "Wir haben eine sehr schwierige Zeit vor uns", prophezeit die grüne Haushaltsexpertin Anja Hajduk. Zumindest im Bundesfinanzministerium ist die Nervosität mit Händen zu greifen. Am übernächsten Donnerstag soll die neue Steuerschätzung bekannt gegeben werden. Experten erwarten, dass Ressortchef Hans Eichel (SPD) weitere Milliardenausfälle verkraften muss. Vor allem die Tabak- und die Mineralölsteuer bleiben deutlich hinter den veranschlagten Einnahmen zurück. Mit dem Minus kommt nicht nur der Haushaltsentwurf für 2005 ins Rutschen. Deutschland läuft obendrein Gefahr, die Defizitvorgabe des EU-Stabilitätspakts zum vierten Mal in Folge zu verletzen. Zur offiziell beschworenen Einhaltung des Drei-Prozent-Kriteriums müsste schon nach heutigem Stand eine Finanzlücke von etwa zehn Milliarden bei Bund, Ländern und Gemeinden geschlossen werden. Kein Wunder also, dass Eichels Beamte fieberhaft nach Geldquellen fahnden. Offiziell hält sich der Kassenwart noch zurück. "Zusätzliche Maßnahmen", so sie denn nötig seien, würden erst nach der Steuerschätzung bekannt gegeben, sagte Eichel gestern. Die Spekulationen schießen trotzdem ins Kraut. Sie reichen von der Abschaffung der Steuerfreiheit von Feiertags- und Nachtzuschlägen bis zur Streichung der Pendlerpauschale und des Sparerfreibetrages. Allein diese Posten würden sich für die öffentliche Hand auf eine jährliche Entlastung von rund 8,3 Milliarden Euro summieren. Anderseits müsste der unionsdominierte Bundesrat dafür grünes Licht geben, was nach Lage der Dinge kaum zu erwarten ist. Wohl auch deshalb rückte gestern noch eine weitere Möglichkeit ins Rampenlicht: Anstatt die Überschüsse der Krankenkassen zur Beitragssenkung einzusetzen, sollten die Assekuranzen die Zuwächse komplett zum Schuldenabbau verwenden. Dahinter steckt die wenig beachtete Tatsache, dass auch die Finanzlage der Sozialsysteme in die Berechnung des EU-Defizitkriteriums einfließt. Der im Finanzressort veranschlagte Schuldenstand der Krankenkassen beläuft sich auf rund acht Milliarden Euro. Gemessen am Bruttosozialprodukt sind das 0,4 Prozent. Würden die Kassenschulden vollständig getilgt, könnte Deutschland im nächsten Jahr das Maastricht-Kriterium mit 2,9 Prozent sogar leicht unterbieten. Dumm nur, dass Eichels Beamte ihre Rechnung ohne die Gesundheitsministerin gemacht haben. Ulla Schmidt (SPD) wischte die Begehrlichkeiten mit der Gesetzeslage vom Tisch. Danach sollen die Assekuranzen ihre Schulden zu gleichen Teilen über einen Zeitraum von vier Jahren abbauen. Somit bleibt dem Finanzministerium nichts anderes übrig, als den schönen Plan offiziell zu dementieren.

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