Der arme Kanzler

Fast jeder Deutsche ist Mitglied in einem Verein, und viele engagieren sich in karitativen Organisationen. Besonders Leidensfähige beantragen sogar das Mitgliedsbuch einer politischen Partei.

Fast jeder Deutsche ist Mitglied in einem Verein, und viele engagieren sich in karitativen Organisationen. Besonders Leidensfähige beantragen sogar das Mitgliedsbuch einer politischen Partei. Den härtesten Prüfungen sind dabei derzeit die Sympathisanten der Sozialdemokratie ausgesetzt. Dort dazuzugehören, ist wahrlich nicht vergnügungssteuerpflichtig. Nicht genug damit, dass der einstige Bundesvorsitzende Oskar Lafontaine sein Parteibuch endgültig abgegeben hat; das wäre durchaus noch zu verschmerzen. Nein, die Qualen bewegen sich in anderen Dimensionen. Zum allergrößten Verdruss der Mitglieder verlieren die Spitzengenossen seit Jahren eine Wahl nach der anderen. Doch auch das ist nichts gegen die Zumutungen, mit denen der rote Kanzler das Parteivolk derzeit beglückt. Schröder will nicht mehr so richtig, na ja, jedenfalls nicht so wie bisher. Schluss mit der Nörgelei an seiner Politik, er will das Volk fragen. Der Niedersachse hat beschlossen, neu wählen lassen. Sagt er, aber jetzt weiß niemand, wie das gehen soll. Und Gerhard Schröder schweigt, will sich erst Ende Juni erklären. Denn anders als jeder Arbeitnehmer kann der Bundeskanzler nicht so einfach kündigen. Und das Volk sich auch keinen anderen wählen. Nein, da gibt es noch so etwas verstaubtes, zuweilen lästiges wie die Verfassung. Und die legt klar fest, was passieren muss, damit Schröder die Flucht aus dem Kanzleramt, in das er einst unbedingt hinein wollte, ergreifen und sich das Volk neue Heerführer wählen darf. Die Mehrheit muss dem Regierungschef abhanden kommen. Nur: Wie macht man das? Vor Wochen wäre der Befehl zur Gehorsamsverweigerung gegenüber der Regierung noch anstandslos befolgt worden. Doch selbst das klappt nicht mehr. Denn die knappe rot-grüne Mehrheit in Berlin denkt gar nicht daran, selbige dem Kanzler zu verweigern. Die Situation ist schwierig und erfordert wohl ein ganz besonderes Verständnis von Regierungskunst.Die Grünen haben ihre Vasallentreue zu Gerhard Schröder aus der Besenkammer geholt, erklären unverdrossen rund um die Uhr, sie stünden hinter dem Kanzler, und ducken sich brav weiter. Nein, den Königsmörder wollen sie nicht machen. Nicht einmal mehr auf die letzten verbliebenen Linken in der SPD, Nahles und Schreiner, ist in dieser schwersten Stunde unseres Kanzlers Verlass. Statt harscher Kritik und sozialistisch angehauchter Sozialromantik kommt aus dieser Ecke ein Liebesbeweis nach dem anderen für den einst übel beschimpften Genossen der Bosse. Hartz fünf und sechs, Arbeitslosengeld sieben und acht, alles würden die Linken wohl kommentarlos abnicken. Wenn Schröder nur bliebe und sie nicht schuld daran wären, dass er sich endgültig in die Toskana zurückzieht, um seine Memoiren zu schreiben. Verantwortung los zu werden, ist manchmal eben noch schwerer, als sie zu tragen. Mal sehen, wie es dem Kanzler gelingt, die Bürde des schweren Amtes seiner Nachfolgerin auf die Schultern zu laden. Doch allzu große Sorgen sollte sich keiner machen. Gerhard Schröder schafft auch das noch, ehe er seine Lebenserinnerungen bei einem Glas Rotwein und einer Cohiba-Zigarre schreiben lässt! d.schwickerath@volksfreund.de

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