Der starre Blick aus dem Fenster

MADRID. Mit einer offiziellen Trauerfeier in der Kathedrale von Madrid hat Spanien gestern der Opfer der Anschläge vom 11. März gedacht. Wie die spanische Hauptstadt langsam zur Realität zurückkehrt, darüber berichtet die Trierer Studentin Julia Neumann, die sich derzeit in Madrid aufhält.

Und da ist er wieder, dieser ängstliche Blick in den Augen der Menschen. In den Nahverkehrszügen ist es ruhiger als normal, die Leute schauen mit starrem Blick aus dem Fenster. 14 Tage nach dem Attentat versuchen die Madrilenen in ihren Alltag zurückzukehren. Die Zugverbindungen funktionieren wieder und werden auch zu 80 Prozent genutzt. Die Staatstrauer ist vorüber: Kinos, Bars und Theater sind wieder geöffnet, die Flaggen nicht mehr auf Halbmast. Mit der überwältigenden Demonstration am letzten Freitag, der offiziellen Trauerfeier am Mittwoch und dem überraschenden Wahlerfolg der sozialen PSOE haben die Leute zumindest ihre Wut über Terrorismus und politische Wahlkampflügen rausgelassen. Vor dem Bahnhof Atocha zündeten die Menschen gestern Kerzen an und legen Blumen im Gedenken an die Opfer nieder. Auch zwei Wochen danach ist die Trauer präsent. Was zudem bleibt, ist der Schock. Das Thema kommt nur selten in Gesprächen auf, denn jedem fehlen die Worte, um das Unfassbare zu beschreiben. Man hört die Leute sagen: Aber sonst waren Attentate immer so weit weg. Doch schnell wechselt das Gespräch wieder auf die Politik, ein Thema das sich leichter diskutieren lässt. Mal sehen was er jetzt machen wird, der neue Präsident: Rückzug aus dem Irak? Offene Europapolitik? Noch immer hängen Staatsflaggen mit Trauerbändern aus den Fenstern, an den meisten Zügen, Taxis und Bussen wehen schwarze Bändchen. Die schrecklichen Bilder sind immer noch überall. Das spanische Fernsehen geizt nicht mit grausamen, blutigen Bildern. In den Zeitungen wird die Tragödie in Zeichnungen nachvollziehbar und bis ins kleinste Detail vorstellbar gemacht. Selbst in der Metro sieht man die Menschen auf den Fernseher starren. Mehr Sicherheitsvorkehrungen? Bestimmt, nur können sie die Angst der Menschen nicht verhindern. Man hört viele unglaubliche Geschichten: Von einem Mann, der fünf Minuten vor der Explosion das Abteil wechselte, aus einem Gefühl heraus und sich so das Leben rettete. Von einer Studentin, die ihren Wecker nicht hörte und so den Zug verpasste. Die Wirklichkeit wird zur Fiktion, Stoff, aus dem Filme gemacht werden: Heldentaten, Tragödien, Liebesgeschichten, Schicksal... Doch je mehr Bilder, Reportagen und Talkshows man sich anschaut, desto unrealistischer wird das Geschehene. An diesem ersten Frühlingswochenende füllen sich die Straßen, Bars und Cafés wieder. Die Menschen schauen entspannter. Viele haben das verlängerte Wochenende genutzt, um sich außerhalb Madrids zu erholen. Nicht um zu vergessen, sondern um wieder in ihren Alltag zurückkehren zu können. Die Stadt wird noch lange brauchen, um die schrecklichen Ereignisse zu verarbeiten, aber sie hat den richtigen Weg gewählt: Man trauert zusammen, leise und ohne patriotische Wut.

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