Der zerbrochene Krug

Ja oder Nein!? JA oder NEIN!? JAAA oderNEIIINNN!? Wenn Michel Friedman die "Gäste" seiner Fernseh-Talkshow auspresst wie frische Zitronen, kennt er nur eins: kräftig zupacken, beidhändig quetschen - und nicht nachgeben, bis der Saft in Form von "Geständnissen" fließt.

Wie Waffen wirken seine Worte. Quälend, spitz und messerscharf. So mancher Delinquent rutscht auf dem roten Sofa unbehaglich hin und her, schwitzend und schwatzend im Gewitter der Fragen, schmorend im Fegefeuer der Eitelkeiten. Anerkannte Gutmenschen oft, die der unerbittliche Großinquisitor ins Kreuzverhör nimmt, denen er offenkundig beweisen will, dass es nur eine Instanz des politischen Anstands gibt: Friedman. Ein Weltverbesserer. Gehetzt, rastlos, angetrieben vom Perpetuum mobile der ewigen Wahrheitssuche. Nun ist der große Moralist des deutschen Medienzirkus‘ selbst in das Mahlwerk eines öffentlichen Tribunals geraten. Schnupft Friedman Kokain? Hat er Kontakte ins Rotlichtmilieu? Pflegt er gar Geschäftsbeziehungen zu osteuropäischen Zuhältern? Ja oder Nein!? Die Antwort bleibt vorerst offen. Staatsanwälte ermitteln. Gerüchte köcheln. Bewiesen ist nichts. Es gilt die Unschuldsvermutung. Der sonst so eloquente Moderator schweigt. Das Image des unbestechlichen Saubermanns freilich ist zerstört, ganz egal, wie die juristische Bilanz dereinst ausfallen wird. "Von allen Posen ist die moralische die unanständigste", behauptet der Dichter Oscar Wilde. Will sagen: Nichts ist widerwärtiger als ein Moralist, der nur so tut als ob. Genau diesem Vorwurf sieht Friedman sich ausgesetzt. Als prominenter Fernseh-Talker, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Wirtschaftsanwalt, CDU-Politiker, Partylöwe und Kosmopolit lebt er auf der Überholspur. Immer Vollgas, keine Atempause. Schläft angeblich nie länger als drei Stunden. Tanzt auf allen Hochzeiten. Das böse Erwachen, die Vollbremsung: Friedman, der sich als Sohn von Holocaust-Überlebenden unantastbar wähnt, der sich als Gewissen der Nation inszeniert, der an Tabus kratzt und unversöhnlich in Wunden bohrt, jener perfekte Friedman ist plötzlich gezeichnet - von einem ganz gewöhnlichen menschlichen Makel. Nichts Schlimmes, wirklich nicht. Ein klitzekleiner Ausrutscher nur. Unbewiesene Behauptungen, er sei ein Kokser. Pah! Das kommt tausendfach vor. Und doch: Friedman steht da wie der Dorfrichter Adam in Kleists "Zerbrochenem Krug" - ein Richter, gezwungen dazu, sich mit seinem eigenen Vergehen auseinander zu setzen. Eine tragikomische Figur. Das tut weh. Ob er als Vize des Zentralrats zu halten ist, sollten sich die Vorwürfe bestätigen? Wohl kaum. Genau so wenig wie ein führender Katholik oder Protestant weiter das Gegenteil von dem predigen dürfte, was er selbst vorlebt. Und Friedmans Fernseh-Karriere? Klar, er hat eine zweite Chance verdient - wie Fußballtrainer Christoph Daum oder Liedermacher Konstantin Wecker. Aber nichts wird mehr so sein wie es war. Wann immer Friedman den moralischen Zeigefinger hebt, schlägt ihm Hohn und Spott entgegen, ganz gleich, ob er "schuldig" ist oder nicht. Wer sich derart eitel und selbstgefällig zum Maß aller Dinge erhebt, darf sich keinerlei Kratzer erlauben. Auch Michel Friedman muss lernen: Niemand ist vollkommen. p.reinhart@volksfreund.de

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort