Deutscher Alltag

Vor nunmehr 15 Jahren geschah ein Wunder, das jahrzehntelang nur geträumt werden konnte. BRD und DDR, Deutschland West und Deutschland Ost, verschmolzen wieder miteinander. Der eiserne Vorhang war quasi über Nacht verschwunden, die deutsche Einheit wurde Realität.

Vor nunmehr 15 Jahren geschah ein Wunder, das jahrzehntelang nur geträumt werden konnte. BRD und DDR, Deutschland West und Deutschland Ost, verschmolzen wieder miteinander. Der eiserne Vorhang war quasi über Nacht verschwunden, die deutsche Einheit wurde Realität. Es war eine Zeit des Aufbruchs und der Hoffnung. Die Politik mit Helmut Kohl an der Spitze bestellte das Feld, um "blühende Landschaften" zu schaffen, und glückliche Menschen - so glaubten viele - würden dereinst ihren Enkelkindern erzählen, wie bravourös sie eine der spektakulärsten Umbrüche der Geschichte bewältigt haben. Dann kam der Alltag.Nun wissen wir ziemlich genau, wie diese fantastische Story bis jetzt verlaufen ist. Die Euphorie verflüchtigte sich schneller als erwartet, der Aufbau Ost geriet zum (industriellen) Abbruch Ost, der Westen zahlte und staunte über das Fass ohne Boden, und parallel zu den schwindenden Chancen der Menschen in den neuen Ländern stieg der Frust ebendort in gefährliche Höhen. Ein Prozess, der zu neuer Entfremdung und schließlich zum Aufbau einer neuen Mauer führte: in den Köpfen.

Mittlerweile sind aber auch diese virtuellen Steine wieder eingerissen - man hat sich aneinander gewöhnt. Ein "Ossi" ist keine Exot mehr, der "Wessi" kein herzloser Egoist, der nur über das viele Geld jammert, das nach "drüben" gepumpt wird. Das Verständnis für die Lage des anderen ist gewachsen, und die Kategorie der Dankbarkeit, von genervten Westbürgern früher gern vorgebracht, spielt keine Rolle mehr. Fast könnte man meinen, die Normalität habe Einzug gehalten in Deutschland einig Vaterland. Ganz so ist es aber nicht.

Das Kernproblem, die hohe Arbeitslosigkeit mit all ihren Folgewirkungen, wirkt wie festgemeißelt. Im Osten Deutschlands ist sie rund doppelt so hoch wie im Westen (18,2 zu 9,6 Prozent). Besonders deprimierend: Es ist keine echte Besserung in Sicht. Zwar geht es den industriellen Leuchttürmen Leipzig und Dresden vergleichsweise gut, doch in weiten Teilen des früheren "Arbeiter- und Bauernstaates" herrscht Tristesse auf dem Arbeitsmarkt. Die Perspektivlosigkeit wiederum führt zum Exodus der jüngeren Bevölkerung, was die Spirale ins Elend noch verstärkt. Kein Wunder, dass sich viele Menschen in den betroffenen Gebieten als Verlierer der Einheit verstehen. Deshalb verblassen die positiven Resultate auch zuweilen: Die verfügbaren Einkommen Ost haben immerhin 83 Prozent des Westniveaus erreicht, die Lebenserwartung im Osten ist enorm gestiegen (um gut drei Jahre), Städte und Gemeinden sind gründlich renoviert.

Willy Brandt hat Recht behalten: Es wächst zusammen, was zusammen gehört. Dass dieser Prozess langwieriger und schmerzhafter vorangeht als sich mancher gewünscht hat, mag bedrückend sein. Doch die Zeit heilt viele Wunden: Für kommende Generationen wird die Ost-West-Problematik - hoffentlich - nur noch Geschichte sein.

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