Die Gedanken sind frei

In den Gesichtern der Zuhörer stand die wahre Dimension dieser Rede geschrieben: Erstaunen, Entsetzen, Freude und Befremden bis hin zur Ängstlichkeit zeigten die Mienen der Studentinnen und Studenten der Universität im chinesischen Nanjing.

Diese jungen Menschen sind mit Machtdemonstrationen, Sieges-Paraden und den Parolen ihres Regimes groß geworden. Sie haben gelernt, dass unwillkommene öffentliche Meinungsäußerungen das Leben kosten können. Als sie den Worten des deutschen Bundespräsidenten Johannes Rau lauschten, drangen nur mit kurzer zeitlicher Verzögerung durch den chinesischen Übersetzer ungeheuerliche Aussagen an ihr Ohr, die das Gewohnte in Frage stellten - und aus einem Höflichkeitsbesuch in Sekundenschnelle einen historischen Moment machten: Ein Riesenland wie China könne nicht dauerhaft mit autoritärer Politik gut regiert werden, sagte der Gast den Gastgebern. Kaum ein anderer als Johannes Rau hätte so diplomatisch einen handfesten Appell formulieren können: Schafft endlich Euer Regime ab! Rau bot Hilfe an, bediente sich beim Philosophen Konfuzius, sparte nicht mit Ehrerbietung und kritisierte höflich weiter. Seine rhetorisch versierte Leistung löste keinen Ärger aus, selbst bei chinesischen Diktatoren nicht. Kompliment. Mit dem Mut zu einer solchen Rede - es haben schon weniger gewichtige Worte zu diplomatischen Verstimmungen geführt - und ihrer Qualität hat sich Rau einen Ehrenplatz in der Liste der Bundespräsidenten verdient. Vielleicht hat er deshalb alles auf eine Karte gesetzt? Er weiß, er muss die ihm verbleibende Amtszeit gut nutzen, und er kommt sicher nicht mehr in seiner Funktion als Bundespräsident nach China zurück. Aber vielleicht bewegte Rau schlicht die Erkenntnis: Man muss als Vertreter eines Rechtsstaates beizeiten sagen, was zu sagen ist, sonst ändert sich nie etwas. Eric-Emmanuel Schmitt schreibt in seinem Buch "Oscar und die Dame in Rosa": Gedanken, die man nicht ausspricht, fangen an zu stinken. Und wer hätte das Gedanken-Aussprechen in China sonst übernehmen sollen als ein demokratischer Politiker, dem man zuvor durch die Ehrendoktorwürde die nötige Intelligenz bescheinigt hatte!? b.markwitan@volksfreund.de

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