Die Pflicht der Erinnerung

Wo man hinschaut dieser Tage: Auschwitz. Uno, Bundestag, Landtag, alle Fernsehkanäle, die Presse, die Kanzeln - keiner kommt an diesem Thema vorbei. Zu viel? Nein. Und nochmal nein. Es geht nicht um ein Allerweltsdatum der Geschichte, das sich zum 60. Mal jährt.

Es geht nicht um eines von zahllosen Verbrechen, die Menschen in aller Herren Länder im Namen aller möglichen Ideologien an anderen Menschen begangen haben. Manches Grauen ist so entsetzlich, dass es sich unserem Vorstellungsvermögen einfach entzieht. Eineinhalb Millionen Ermordete allein in Auschwitz: Wie kann man sich eine solche Dimension überhaupt bewusst machen? In der ganzen Region Trier leben 500 000 Menschen. Man stelle sich vor, sie würden alle deportiert und umgebracht. Von Daun bis Saarburg, von Wittlich bis Hermeskeil, von Bitburg bis Trier eine menschenleere Landschaft - es wäre nur ein Drittel der Ermordeten von Auschwitz. Der Völkermord an den Juden, aber auch der an Behinderten und Missliebigen war kein Exzess in einem Bürgerkrieg, keine aus dem Ruder gelaufene Reaktion in einem hitzigen Gefecht. Es war die systematisch geplante, von langer Hand vorbereitete und industriell organisierte Vernichtung willkürlich ausgewählter Bevölkerungsgruppen, die sich nicht das Geringste hatten zuschulden kommen lassen. Frauen, Kinder, Greise: Niemand wurde geschont. Es gibt kein Recht darauf, diese Monstrosität aus der deutschen Geschichte zu streichen oder wenigstens nichts mehr davon zu hören. Keiner der Nachgeborenen hat die Pflicht, die persönliche Schuld für das Geschehene zu übernehmen. Aber es gibt die Pflicht, sich zu erinnern. Und wer zu Recht auf das große deutsche Kulturerbe verweist, auf Schiller und Goethe, Beethoven und Kant, der muss auch das andere, schreckliche Erbe akzeptieren. Man kann sich aus der Geschichte nicht verabschieden. 60 Jahre Auschwitz, das ist die letzte Gelegenheit, authentische Zeitzeugen zu erleben. In zehn oder 15 Jahren werden sie nicht mehr da sein. Nehmen wir uns die Zeit, ihnen zuzuhören. Denn wer vergisst, tötet die Opfer von Auschwitz ein zweites Mal. d.lintz@volksfreund.de

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