Die Schnecke im Schlafrock

"Diu boesen maere werdent wît. Daz guotemaere schier gelît." Verse des Dichters Freidank, mittelhochdeutsch, fast acht Jahrhunderte alt.Böse Nachricht nimmt immer zu. Gute Nachricht kommt bald zur Ruh.

Übertragen in den Neusprech unserer Tage: Good news are bad news. Will sagen: Das Dunkle, Abseitige, Unheimliche verkauft sich besser als Mitteilungen aus der Welt des Guten, Gerechten, Normalen. Freidanks Gedanken, ein früher Beleg für die - typisch deutsche - Lust am Jammern. Früher, ja früher war alles viel besser. Unfug. "Der Deutsche schleppt an seiner Seele", schreibt der Philosoph Friedrich Nietzsche, "er schleppt an allem, was er erlebt. Er verdaut seine Ereignisse schlecht, er wird nie damit fertig, die deutsche Tiefe ist oft nur eine schwere zögernde Verdauung." Hhm. Die "deutsche Tiefe", der Hang zum Grübeln, jene vermeintliche Tugend, auf die sich ganze Generationen von Dichtern und Denkern berufen - nichts weiter als eine schmerzhafte Verstopfung? Aua! Und wie wäre der gegenwärtige Seelenzustand der Nation zu beschreiben? Tiefgründig ist sie gewiss nicht, diese Befindlichkeit zwischen Geiz-ist-geil-Ich-bin-doch-nicht-blöd-Mentalität und Dschungelcamp, zwischen Weinerlichkeit und Bedenkenträgerei?Diagnose: schwerer Dünnpfiff. Der Zeitgeist krümmt sich unter Diarrhö, die Spaßgesellschaft kichert sich zu Tode. Monoton wummert der Rhythmus: gaga tumb-tumb-tumb, gaga tumb-tumb-tumb, dröhnt es ohne Unterlass. Wie ein Geschwür frisst sich die Trash-Kultur in den Alltag. Müll in der Glotze, Murks in der Politik. Die viel beschworene Leitkultur? Bildung? Wissen? Kreativität? Verschwinden zunehmend in den Nischen für kleine Eliten. Das Massen-Programm: Verblödung. Flimmernder Fernseh-Schein bestimmt das Bewusstsein, immer schamloser senden die Privatkanäle auf Schlüsselloch-Niveau: Big Brother, Frauentausch, Alm-Gejodel, Wir-renovieren-unser-Oma-ihr-klein-Häuschen, Flachsinn am Nachmittag - ein einziger Brei von Reality-Doku-Talk-Casting-Comedy-Event-Soap-Kult-Shows. Die Quote ist heilig, das Niveau verfällt, auch das öffentlich-rechtliche. Im Seichten kann man nicht ertrinken, wohl wahr. Getoppt von Werbung, so wüst und nervenzerfetzend, als wäre sie für Pavianbanden gedacht, die gerade einen Primärtherapie-Workshop veranstalten. Lasst euch nicht verar… stopp! Bleierne Zeit, erstarrtes Land. Das Wort "Standort" bekommt einen ganz neuen Klang, sagt der Philosoph Dieter Thomä: "Stehen bleiben, das ist das Ziel. Oder sich gleich hinlegen." Die deutsche Geschichte kenne wohl keine Epoche, in der die Ziele, die man verfolgte, so vollständig der Vergangenheit oder dem Status quo entstammten wie heute. Des Philosophen bittere Erkenntnis: "Die Ostdeutschen wollen so leben wie die Westdeutschen vor 1989 oder ersatzweise wie die Westdeutschen von heute. Die Westdeutschen wollen so leben wie die Westdeutschen vor 1989 oder ersatzweise wie gestern. Der Modedesigner Wolfgang Joop will heute nicht älter aussehen als vor fünf Jahren. Die VW-Arbeiter wollen, dass ihr Tarif bleibt, wie er ist." Die Zukunft im Rückspiegel suchen, das ist die Denke des Biedermeier - jener philiströs-unpolitischen Zeitspanne von 1815 bis 1848, in der treuherzige, schwermütige Spießbürger Ruhe als erste Pflicht verstanden, von Kritikern verspottet als "Verhängnis im Schlafrock". Der Kulturhistoriker Egon Friedell beschreibt die biedermeierliche Seelenhaltung als "verwaschen, wehleidig und affektiert und auf den Kultus von Privatgefühlen konzentriert". Passt haargenau aufs deutsche Gemüt anno 2004. Hauptsache: Besitzstand wahren. Das Klammern am Althergebrachten lähmt den Stillstandort D., es verursacht Blockade und Reformstau. Immerhin war die Biedermeier-Zeit erfrischend kurz, tröstet Philosoph Thomä, und weist den Weg zum Notausgang: "So wie sich damals herumsprach, dass der Status quo immer von gestern ist, so sollten wir uns jetzt mit der Einsicht anfreunden, dass Behäbigkeit und Unbeweglichkeit nur Vorboten der Bewegung sind. Vielleicht treten wir derzeit nur deshalb auf der Stelle, um später dann umso schneller starten zu können?" Es gibt also Hoffnung. Hoffnung, dass eine anthropologische Konstante den Muff aus deutschen Hirnen bläst: jener geheimnisvolle Antrieb des Homo sapiens, der irgendwo tief in den Genen schlummert. Der schon Urmenschen half, zu überleben. Weiter machen. Nach vorne blicken. Grenzen überschreiten. Neue Kontinente entdecken. Mit einem Wort: Fortschritt. Eine Schnecke zwar, die mitunter im biedermeierlichen Schlafrock steckt und schnarcht. Meist aber kriecht sie vorwärts. Alles in allem: Sie bewegt sich doch. Und das ist eine "guote maere". p.reinhart@volksfreund.de

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