Eine Chance vertan

Wenn es noch eines weiteren Beweises bedurft hat, dass die große Koalition nicht zu sonderlich großen Würfen fähig ist, so liegt der jetzt auf dem Tisch. Nach den leidigen Erfahrungen mit der Gesundheitsreform haben die Koalitionäre lieber die Finger von einer umfassenden Pflegereform gelassen.

Richtig ist: Demenzkranke und ihre Angehörigen erhalten erstmals eigenständige Leistungen der Pflegeversicherung. Das ist eine qualitative Verbesserung für die Betroffenen, gar keine Frage. Auch wenn man schon viel früher in diesem Bereich hätte aktiv werden können und müssen. Das strukturelle Grundproblem bleibt aber: Immer weniger Beitragszahler stehen immer mehr Pflegebedürftigen gegenüber. Was also tun? Schon jetzt ist absehbar, dass die Minimalisten von Union und SPD alsbald erneut nächtens im Kanzleramt tagen werden - so groß ist der Problemdruck. Beim Thema Mindestlohn könnte man vordergründig der Auffassung sein, die SPD hat einen Achtungserfolg erzielt. Branchenbezogen werden nun hoffentlich mehr Arbeitnehmer gerechteren Lohn erhalten. Angesichts der Betonhaltung der Union war ein flächendeckender Mindestlohn illusorisch - vorführen lassen wie einst beim verhassten Antidiskriminierungsgesetz wollten sich CDU und CSU eben nicht; ein Zurückstecken hätte die Unionsfraktion auch vor eine massive Zerreißprobe gestellt. Nur: Die gefundene Vereinbarung ist kein Erfolg für die Sozialdemokraten, die Genossen haben sich im Koalitionsausschuss selbst eines möglichen Wahlkampfschlagers beraubt. Das war taktisch Kreisklasse. Nun werden also einige Dumpinglohn-Branchen voraussichtlich einen Mindestlohn bekommen. Damit können selbst die starken marktliberalen Kräfte in der Union leben - auptsache, der Mindestlohn erhält nicht Allgemeingültigkeit in Deutschland. Wohin wollen die Genossen aber dann noch entsetzt mit dem Finger zeigen? Vor allem: auf wen? Die gestern zur Schau gestellte Enttäuschung und Empörung bei den SPD-Granden ist wenig akzeptabel, Kurt Beck & Co. hatten eine andere Wahl. Ehrlicher wäre gewesen, keinen hoch komplizierten Wischiwaschi-Kompromiss einzugehen. Damit wäre die Koalition nicht zwingend am Ende gewesen. Man hätte vielmehr erhobenen Hauptes und standfest die Fronten für die anstehenden Wahlkämpfe festgelegt, sogar den Linken den Wind aus den Segeln genommen. Diese Chance wurde grandios vertan. Nun muss sich die SPD gefallen lassen, dass die Lafontaine-Truppe sie weiter vor sich her treibt - und die Union schaut genüsslich zu. Es bleibt dabei, die große Koalition schleppt sich dahin. Trennendes dominiert inzwischen, Gemeinsames fehlt. Bei der Erbschaftssteuer droht neues Ungemach, zukunftsweisende Projekte sind nicht in Sicht. Die Landtagswahlkämpfe 2008 werfen verbal schon ihre Schatten deutlich voraus. Und die zweite Hälfte der Legislatur hat noch nicht einmal begonnen. Angela Merkel und Kurt Beck wären gut beraten, wenn sie und ihre Getreuen noch einmal in Klausur gehen würden: Was wollen wir noch? Nicht was müssen, sondern was können wir noch leisten, was ist gegenseitig zumutbar? Die große Koalition braucht dringend neue Impulse. Sie muss auch dringend neue senden. nachrichten.red@volksfreund.de

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