"Eine Nacht- und Nebelaktion"

BERLIN. Der parlamentarische Sitzungsauftakt am heutigen Donnerstag verspricht turbulent zu werden. Im Bundestag steht das rot-grüne Kinderbetreuungsgesetz zur Abstimmung an, was bei der Opposition schon gestern für hochgradige Erregung sorgte.

Ursache der Erregung ist ein taktischer Schwenk des Familienministeriums. Um einer absehbaren Niederlage im unions-dominierten Bundesrat zu entgehen, spaltete Ressortchefin Renate Schmidt die neuen Bestimmungen kurzerhand in einen zustimmungsfreien und einen zustimmungspflichtigen Teil auf. So kann die zentrale Maßnahme, nämlich der Ausbau der Betreuungsangebote für Kinder bis zu drei Jahren, auch ohne den Segen der Länderkammer in Kraft treten. Ihr Einverständnis wird nur noch bei einigen Neuregelungen im Rahmen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes gebraucht. Die familienpolitische Sprecherin der FDP, Ina Lenke, rügte das Vorgehen der Regierung als "Nacht- und Nebelaktion". Tatsächlich bekam der Familienausschuss des Bundestages die entsprechenden Änderungsanträge gestern erst unmittelbar vor Sitzungsbeginn auf den Tisch. "Das ist nicht nur schäbig, sondern auch undemokratisch", sagte Lenke unserer Zeitung. Familienministerin Renate Schmidt gibt sich allerdings gelassen. Ein bedarfsgerechtes Betreuungsangebot dürfe nicht in einem monatelangen Verfahrenstecken bleiben, argumentierte die SPD-Politikerin. "Das lange Warten auf einen Krippenplatz muss ein Ende haben." Nach dem zustimmungsfreien Gesetz sollen Städte und Gemeinden in den kommenden sechs Jahren 230 000 neue Betreuungsangebote in Krippen und bei Tagesmüttern schaffen. Die Vorgabe zielt vornehmlich auf die alten Bundesländer, in denen zur Zeit gerade einmal 2,7 Prozent der unter Dreijährigen mit einem Platz versorgt sind. Im Osten liegt der Anteil bei 37 Prozent. Unabhängig vom Votum des Bundesrates ist auch festgeschrieben, welche Familien bei der Platzvergabe Vorrang haben. So wird das Angebot auf erwerbstätige Eltern, alleinerziehend Berufstätige und jene Eltern konzentriert, deren Kinder etwa wegen Sprachschwierigkeiten eine frühzeitige Förderung benötigen. Der von den Grünen geforderte Rechtsanspruch auf eine Betreuung blieb unberücksichtigt. Das sei schon wegen der geringen Angebote im Westen "unrealistisch", hieß es dazu. Im zustimmungspflichtigen Gesetz finden sich Regelungen, die es zum Beispiel den Sozialämtern ermöglichen, Kinder zu ihrem eigenen Schutz in Internate zu schicken und die wohlhabenden Eltern daran finanziell zu beteiligen. Auch die Opposition ist im Grundsatz für ein besseres Krippenangebot. Aber sie stört sich am Finanzierungskonzept der Regierung. Nach den rot-grünen Plänen sollen Städte und Gemeinden jährlich 1,5 Milliarden Euro in den Ausbau der Kinderbetreuung stecken. Das Geld werde durch die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum neuen Arbeitslosengeld II frei, sagt der Bund. CDU und FDP halten die Rechnung für eine Luftnummer. "Die angeblichen Einsparungen aus dem Hartz-IV-Gesetz werden sich nicht einstellen", prophezeiht Unionsfraktionsvize Maria Böhmer. Außerdem brauchten die Kommunen in der Endstufe mindestens 2,5 Milliarden Euro, um die Auflagen zu erfüllen. Für die Abstimmung kündigten Union und Liberale Enthaltung an.

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