Eisberg ohne Transparenz

BERLIN. (vet) Betrug, Bestechlichkeit und Verschwendung in der Gesundheitsbranche kosten die Bürger nach Schätzungen der Organisation Transparency International jährlich bis zu 20 Milliarden Euro.

Ein Neurologe hatte Jahre lang die Patientendaten seiner Partnerin, einer Augenärztin, zur Abrechnung in der eigenen Praxis genutzt. Der ermittelte Schaden belief sich auf 108 000 Euro. In einem Hotel wurden einer Frau Massagen und Krankengymnastik angeboten, die ein Mediziner nicht vollständig erbrachte, aber komplett abrechnete. Ein Herzspezialist hatte über lange Zeit Rabatte mit Pharmaunternehmen ausgehandelt, von denen die Krankenkassen ebenfalls nichts wussten. Schadenssumme: über 2,4 Millionen Euro. Meldungen über Betrügereien und Korruption im Gesundheitswesen gehören mittlerweile fast schon zum Alltag wie der Wetterbericht. Dabei sind die jüngsten Skandale - überteuerte Herzklappen, zweifelhafter Handel mit Blutkonserven oder das Gaunerstück der Zahnimportfirma Globudent - offenbar nur die Spitze des Eisbergs. Etwa 95 Prozent aller Delikte kommen nach Einschätzung der Anti-Korruptions-Organisation Transparency International gar nicht ans Tageslicht. Durch dunkle Geschäfte, Verschwendung und Bestechung gingen unserem Gesundheitswesen jährlich zwischen sechs und 20 Milliarden Euro verloren, konstatiert Vorstandsmitglied Anke Martiny. Das entspricht bis zu zwei Prozentpunkten beim durchschnittlichen Krankenkassenbeitrag. Diese Größenordnung leitet sich nach Angaben Martinys aus amerikanischen Untersuchungen ab, die auch auf die Bundesrepublik übertragbar seien. "Es ist genug Geld im System, um alle in Deutschland lebenden Menschen ohne Beitragserhöhungen gut zu versorgen, vorausgesetzt man stellt endlich die Missstände ab", sagt Martiny.Kostenlose Software als Anreiz für Rezepte

Die Anfälligkeit gehe auf die mangelnde Transparenz des Systems zurück. So werkeln in der Gesundheitsbranche immerhin 17 Bundes- und Landesministerien mit. Hinzu kommen 16 berufsständische Organisationen und fast 300 Krankenkassen. Einen Schwerpunkt der gestern von Transparency vorgestellten Untersuchung bildet die Pharma-Industrie. So genannte Schein-Innovationen bei Medikamenten könnten "nur durch Korrumpierung verkauft werden", urteilt der Pharmakologe Peter Schönhöfer. Statt die Behandlung zu verbessern, dienten die Produkte nur weiteren Preiserhöhungen. Von 400 neu zugelassenen Stoffen seit 1990 hätten sich lediglich sieben als echte Innovation erwiesen. Der Rest bringe keinen zusätzlichen Nutzen. So habe zum Beispiel ein Mittel für die Brustkrebsbehandlung Kosten in Höhe von 90 Euro verursacht. Durch eine Schein-Innovation sei der Preis auf über 6300 Euro hoch geschnellt. Derlei Produkte ließen sich nur mit massiver Werbung vermarkten. Nach Schönhöfers Angaben wendeten die deutschen Pharmahersteller im Jahr 2001 rund fünf Milliarden Euro für Marketing auf, aber nur 1,5 Milliarden für die Forschung. "Das Marketing ist heute die stärkste Bedrohung für die therapeutische Versorgung", resümiert Schönhöfer. Stefan Etgeton, ebenfalls Mitarbeiter bei Transparency, verweist indes auf die gängige Praxis, wonach Ärzte von der Pillenindustrie ihre Computersoftware gesponsert bekommen, die bei Verschreibungen zuerst die eigenen Medikamente empfiehlt. Der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie attestierte Transparency postwendend, mit "unseriösen Zahlen" zu operieren. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung sprach von bloßer "Effekthascherei", weil alles in einen Topf geworfen werde. Das Bundesgesundheitsministerium wollte die Daten nicht bewerten, verwies aber auf die Gesundheitsreform, nach der alle Krankenkassen und ärztlichen Vereinigungen Korruptionsbeauftragte haben müssen.

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