Endlich ist Einsicht da

In Berlin, sagt der Innensenator, kann man sein ganzes Leben leben, ohne einmal Deutsch sprechen zu müssen. Diesen Satz könnte man je nach Lesart als Vorwurf an die Migranten oder als Eingeständnis des eigenen Scheiterns auslegen.

Beides trifft zu. Die Hauptstadt ist keine Ausnahme. Jahrzehntelang wurde Integrationspolitik in Deutschland missverstanden. Von Politikern und Betroffenen gleichermaßen. Die Politik trug wie einen schützenden Panzer den Satz vor sich her, Deutschland ist kein Einwanderungsland. Heute wissen wir: Das Gegenteil ist der Fall. Auf der anderen Seite haben sich die Migranten bis in die neunziger Jahre vorgemacht, sie lebten nur auf gepackten Koffern. Sie sind trotzdem geblieben, ohne Förderung, ohne Anforderung, Multikulti wurde allseits gepredigt, aber Ghettoisierung produziert. Integrationspolitik in diesem Land ist die lange Geschichte von ideologischem Starrsinn, von Versäumnissen, auch von Bequemlichkeit und Verweigerung. Das gehört zur Wahrheit dazu. Es ist gut, dass der von viel eitlem Theater begleitete Integrationsgipfel stattgefunden hat. Man stelle sich vor, zum Energie- und Fußballgipfel lädt die Kanzlerin ein, aber das Thema, das in den kommenden Jahren größten sozialen und gesellschaftlichen Sprengstoff birgt, klammert sie bei ihren Chefangelegenheiten aus. Nein, die Integrationspolitik ist endlich da angekommen, wo sie hingehört: In der Mitte der deutschen Politik und damit in der Mitte der Gesellschaft. Deutschland diskutiert dieses Thema zum Glück jetzt sehr offen. Die Schubladen, in die man vor Jahren noch hinein gesteckt wurde, wenn man dafür plädierte, Einwanderern und deren Kindern Sprachkurse abzuverlangen, sind zu. Der Problemdruck hat einsichtig gemacht. Fast einer Kulturrevolution kommt es gleich, dass Union und SPD nun gleichermaßen sagen: Deutschland ist nicht mehr geteilt in In- und Ausländer; das Land akzeptiert Zuwanderung, wir müssen den Einwanderern dann aber auch den Zugang in die Gesellschaft über Bildung und Sprache ermöglichen. Im Gegenzug müssen Migranten deutsche Gesetze, Rechte, Pflichten und vor allem die Bedeutung der deutschen Sprache akzeptieren. Das ist die (selbstverständliche) Theorie. In der Praxis muss die Sache nun noch ausgefüllt werden. Wer dabei jedoch wieder zuerst über Sanktionen nachdenkt, der hat die Dramatik des Integrationsproblems noch nicht begriffen. Für den ist Ausländerpolitik immer noch Ausgrenzungspolitik. Zentral ist nun mal ein ausreichendes Angebot an Sprach- und Integrationskursen. Nicht überall ist das der Fall. Zweitens brauchen wir die Möglichkeit, Kinder von Einwanderern auch in diese Kurse zu holen. Wichtige Folgefragen könnten sich dann viel einfacher beantworten lassen: die nach den beruflichen Chancen von Migranten oder die der Rechte von Mädchen und Frauen. Aber Vorsicht: Kommunen und Länder klagen jetzt schon, dass eine neue, aktive Integrationspolitik teuer werden wird. Ihnen muss man entgegenhalten: Jeder Cent wäre gut angelegt. nachrichten.red@volksfreund.de

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