Fauler Kompromiss

Portugal rückt zunehmend vom Rand Europas ins Zentrum des Kontinents. Nicht nur, dass die Gastgeber der Fußball-Europameisterschaft ein ansehnliches Turnier veranstalten und mit einem Sieg heute Abend dem Titel selbst einen großen Schritt näher kämen.

Das Land am Atlantik besetzt für die nächsten fünf Jahre auch den wichtigsten Posten in der Europäischen Union. Mit José Manuel Durão Barroso haben die Staats- und Regierungschefs einen Mann für den Posten des Kommissionspräsidenten benannt, der viele Kompromisse in sich vereint: Er selbst war bis gestern Ministerpräsident und kommt damit aus den Reihen der nationalen Entscheider; er spricht fließend französisch und gilt als Verbündeter Tony Blairs im Irak-Krieg; als Vertreter eines kleinen Landes fühlen sich auch die neuen EU-Staaten im Osten berücksichtigt; er kommt - abgesehen von einem ideologischen Ausflug in die Lehre Maos - aus dem konservativen Lager, was ihm im Europäischen Parlament eine Mehrheit sichert. Dennoch: Dies allein reicht nicht. Aus diesen Vorzügen das Beste zu machen, wird Barrosos künftige Aufgabe sein. Seine Qualitäten als Person weisen nämlich auch auf die Defizite Europas hin. Denn Barrosos Kür ist und bleibt ein fauler Kompromiss, der kleinste gemeinsame Nenner: Er ist zweite Wahl. Weil sich der einzige Wunschkandidat Europas, Luxemburgs Premierminister Jean-Claude Juncker, seinem Land und damit wiederum nationalen Interessen verpflichtet fühlt und alle anderen Kandidaten nicht durchsetzungsfähig waren, tritt eine europapolitisch blasse Person auf den Plan, der zum Visionär werden soll. Dem Politiker Barroso ist das nicht vorzuwerfen, wohl aber dem System: Wofür soll ein Kommissionspräsident als Kopf der EU stehen, wenn doch nationale Extrawürste ausschlaggebend für die Besetzung sind? Wie soll ein Kommissionspräsident zur treibenden Kraft für das Zusammenwachsen Europas werden, wenn die Bürger von seiner Wahl ausgeschlossen bleiben? Nach dem Hickhack um die EU-Verfassung und dem peinlichen Gerangel um die Nachfolge Romano Prodis ist dies das wirkliche Dilemma Europas. s.schwadorf@volksfreund.de

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