Giftzähne ziehen

BERLIN. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) schaltet sich in die Kontroverse um die Arbeitsmarktreform Hartz IV ein. Bei einem Spitzengespräch im Kanzleramt beriet Schröder am Mittwochabend mit führenden Koalitionspolitikern das weitere Vorgehen bei der geplanten Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe.

Der blaue Himmel über Berlin war einem grauen Wolkenmeer gewichen, als die rot-grünen Reformer gestern Abend im Kanzleramt zum Krisengipfel eintrafen. Regierungschef Gerhard Schröder hatte die Minister Hans Eichel (Finanzen) und Wolfgang Clement (Wirtschaft) extra aus dem Urlaub rufen lassen, und die üblichen Verdächtigen hinzu gebeten: SPD-Chef Franz Müntefering, Kanzleramtschef Frank-Walter Steinmeier, den Grünen-Vorsitzenden Reinhard Bütikofer, die Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt. Bis Redaktionsschluss war nicht klar, ob sich die Teilnehmer des "sommerlichen Gesprächs” (Regierungssprecher Bela Anda) darauf einigen konnten, den Hartz-IV-Schmerz der Bevölkerung durch Ziehung einiger Giftzähne zu lindern. Nun dementierte Anda am Mittwoch zwar die Aussage von SPD-Fraktionsvize Michael Müller, der Kanzler leide "wie ein Hund” unter dem Zustand der SPD und der allgemeinen Diskussion. Er sei vielmehr "gut erholt” aus dem Urlaub gekommen. Doch so recht mochte das niemand glauben in der Bundespressekonferenz, vor der Anda einräumen musste, dass bei der Vermittlung von Hartz IV wohl einiges falsch gelaufen sei. Eigentlich hätte die Bundesagentur für Arbeit das Sommerloch mit Informationskampagnen füllen sollen, doch aus Nürnberg ist nichts gekommen. Jetzt steht Staatssekretär Anda mit seinem Presse- und Informationsamt selbst am Pranger und muss sich des Vorwurfs (eigener Parteifreunde) erwehren, bei der Erklärung von Hartz IV versagt zu haben. Auch deshalb startet das Amt jetzt Info-Kampagnen, im Internet, in ostdeutschen Regionalzeitungen und per Broschüre, um den "vielen Falschmeldungen”, die über das Gesetz im Umlauf seien, Paroli zu bieten. Das Gespräch im Kanzleramt sollte eine "Vorklärung” herbeiführen, sagte Anda. Die eigentlichen Entscheidungen, ob und wo an Hartz IV herum gedoktert werde, sollten auf der Kabinettsklausur Anfang September in Bonn fallen. Tatsächlich war am Mittwoch Mittag aber schon klar, dass akuter Handlungsbedarf besteht, und Schröder die chaotische Debatte um den "Verarmungsprozess durch Hartz IV” (Hermann-Josef Arentz, CDU) so schnell wie möglich stoppen will. Nach Informationen unserer Zeitung war sich aber selbst der Kanzler nicht sicher, ob er die widerstrebenden Minister Clement und Eichel zu Zugeständnissen bewegen könnte. Clement sieht nämlich keinen Anlass zu irgendeiner Korrektur, und Eichel hat stets darauf verwiesen, dass allein die Änderung des Auszahlungstermines für das Arbeitslosengeld II 1,9 Milliarden Euro kosten würde. Auf den Bund entfallen davon fast 800 Millionen Euro. Gleichwohl galt ein Kompromiss in der Frage des Auszahlungstermins (Clement wollte erst im Februar 2005 zahlen, da die letzte Zahlung der Arbeitslosenhilfe Ende Dezember 2004 erfolgt) als sicher. Auch beim Thema Ausbildungsversicherung für Kinder wurde ein Konsens erwartet. Ob es darüber hinaus zu Korrekturen kommt, war am Abend offen. Dass die Debatte aber noch lange nicht zu Ende ist, bewies der SPD-Wirtschaftsexperte Rainer Wend. Er verlangte mehr Zuverdienstmöglichkeiten für Langzeitarbeitslose. Außerdem sollten Niedriglohnjobs gezielter subventioniert werden.

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