Kein Spießer-Alarm

Jugendliche melden sich freiwillig zum Benimmkurs an und strömen in die Tanzstunde - was hat das zu bedeuten? Wächst eine neue Generation von Spießern heran? Keine Panik: Die jungen Leute übernehmen nicht blind althergebrachte Tugenden und Werte, sondern suchen ganz gezielt die aus, die ihnen im Leben weiterhelfen.

Und sie entscheiden von Situation zu Situation, wann welches Verhalten angesagt ist. "Wertepragmatismus" nennen das Soziologen: Fleiß zum Beispiel gilt nicht mehr als immer und überall gefragte Tugend, sondern ist während der Examens- oder der Arbeitszeit angesagt, während in den Ferien oder nach Feierabend nach Herzenslust gefaulenzt wird. Der Trend zur Rückbesinnung bei Jugendlichen steht für ein Phänomen, das große Teile der Gesellschaft erfasst hat: Traditionelle Werte sind wieder "in" - ohne dass damit universelle Gültigkeit, Absolutheitsansprüche und Schwarz-Weiß-Denken verbunden wären. Ein Beispiel dafür ist die Religion: Das Interesse daran hat zugenommen, während die Deutschen nicht im formalen Sinn gläubiger geworden sind. Viele wünschen eine stärkere Orientierung der Gesellschaft an christlichen Werten, ohne deshalb regelmäßig zur Kirche zu gehen. Der viel zitierte Begriff der "Renaissance" trifft das, was derzeit mit alten Idealen geschieht, genau: Wie in der gleichnamigen Epoche der Kunst- und Geistesgeschichte werden sie wiederbelebt, während sich gleichzeitig ein neues, freieres Lebensgefühl durchsetzt. Es entsteht ein differenziertes, unverkrampftes Verhältnis zu überlieferten Tugenden, die auch in einer modernen Gesellschaft noch Wert-voll sind. Dass große Teile der Gesellschaft die von der 68er-Bewegung angestoßene Ablehnung alles "Bürgerlichen" nicht mehr für nötig halten, ist letztlich ein Beweis für den Erfolg der Revolutionäre: Der "Muff von 1000 Jahren" ist endgültig verschwunden - nicht nur unter den Talaren. i.kreutz@volksfreund.de

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