Lebendige Bilder

Blaulichter vor dem Gutenberg-Gymnasium, Sanitäter, die unter Polizeischutz Verletzte bergen, schreckensstarre Kindergesichter, sich schluchzend in den Armen liegende Jugendliche, ein Meer aus Blumen und Kerzen am Portal der Schule - diese Bilder sind heute, ein Jahr nach dem Amoklauf von Erfurt, nicht nur in der Stadt des in Deutschland beispiellosen Verbrechens lebendig, sondern auch am anderen Ende der Republik, in Trier, Bitburg und Wittlich.

Unter dem Eindruck des Massakers, bei dem ein kurz vor dem Abitur der Schule verwiesener 19-Jähriger zwölf Lehrer, zwei Schüler, die Sekretärin, einen Polizisten und schließlich sich selbst erschoss, hat sich einiges getan: Das Waffenrecht wurde verschärft, gewalttätige Computerspiele müssen mit einer Alterskennzeichnung versehen werden, ein Jugendmedienvertrag soll den Nachwuchs vor Gewalt und Krieg verherrlichenden Filmen schützen, und ein neues Schulgesetz erleichtert thüringischen Gymnasiasten den Realschulabschluss. Angesichts der weiter bestehenden Missstände mutet dies alles jedoch wie Aktionismus an: Nach wie vor sind die meisten Klassen so groß, dass Lehrer ihre Schüler nur unzureichend individuell betreuen können; immer noch arbeiten kaum Sozialarbeiter an Schulen, die Problemkinder auffangen und begleiten könnten; Eltern erhalten weiterhin viel zu wenig Unterstützung. Häufige Folge: gefrustete Schüler, die unfähig sind, Negativ-Erlebnisse zu verarbeiten, und ein Umfeld, das ihren explosiven psychischen Zustand nicht bemerkt. Hier anzusetzen, würde die Gefahr einer Wiederholung der Tat von Erfurt wirksamer verringern als neue Waffengesetze, über deren Unzulänglichkeit sich Fachleute weitgehend einig sind, oder Altersbeschränkungen auf Videospielen, die ohnehin ignoriert werden. Garantien allerdings bietet auch eine bessere Betreuung nicht. Wer kann schon ausschließen, dass irgendwann irgendwo wieder ein Schüler aus Wut über schlechte Noten oder Sanktionen um sich schießt? Dass ein Pleitier nach dem vergeblichen Bemühen um einen Kredit in der Bank Amok läuft? Oder ein unzurechnungsfähiger Zeitgenosse aus Wut über einen Artikel mit einer Pistole in die TV -Redaktion stürmt? Das ist es, was die Bilder aus Erfurt so tief in unser Gedächtnis eingegraben hat: das Bewusstsein, dass eine Wahnsinnstat wie die heute vor einem Jahr in Erfurt jeden von uns treffen könnte und dass wir uns davor kaum schützen können. i.kreutz@volksfreund.de

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