Letzte Hoffnung alte Tante

Berlin. (BB) Die SPD-Delegierten werden am Sonntag einem neuen Parteivorsitzenden zujubeln. Es besteht kein Zweifel daran, dass der 64-jährige Sauerländer Franz Müntefering vom Sonderparteitag mit großer Mehrheit zum Nachfolger von Gerhard Schröder gewählt wird.

Bestätigt sich die Hoffnung der beiden Spitzengenossen, die diesen Amtswechsel ausgeheckt haben, dann kann mit dem Datum 21. März 2004 eine neue Zeitrechnung für die deutsche Sozialdemokratie anbrechen. Indes, es steht zu befürchten, dass außer dem Frühling nichts anbrechen wird an diesem Sonntag. Die Zeichen deuten eher auf einen Fortgang des sozialdemokratischen Elends hin. Der Therapieversuch, verkörpert durch die Personalie Müntefering, dürfte schon aufgrund einer simplen Logik zum Scheitern verurteilt sein: Wer eine Lungenentzündung hat, kann nicht durch eine Blinddarm-Operation geheilt werden. Soll heißen: Wenn Anamnese und Diagnose falsch sind, nutzt das ganze Herumdoktern nichts. Die SPD ist nicht auf 25 Prozent Wählerzuspruch abgestürzt, weil der Vorsitzende Gerhard Schröder heißt. Die Partei ist vielmehr deshalb zusammen geschnurrt, weil dieser Schröder in seinem Hauptberuf als Bundeskanzler seit geraumer Zeit eine Politik praktiziert, die mit dem bisherigen Selbstverständnis der SPD nicht in Einklang steht. Eine Politik, die nach Ansicht der Kritiker einen neoliberalen Beigeschmack hat, streng nach Union und FDP riecht. Im Wahlkampf 2002 war davon nie die Rede. "Der Franz" soll es nun also richten. Ausgerechnet Müntefering. Sein kometenhafter Aufstieg erzählt eine ganze Menge über den Niedergang der SPD seit dem Verschwinden des ehemaligen Hoffnungsträgers Oskar Lafontaine. Bis zu einem Alter, wo andere schon an die Rente denken, kannte man den gelernten Industriekaufmann allenfalls in Nordrhein-Westfalen. Man kannte ihn als "Organisator" und "Apparatschik". Niemand, am wenigsten er selbst, hätte je gedacht, dass ein Politikfacharbeiter ("Ich kann nur kurze Sätze") mal als letzte Hoffnung der alten Tante SPD herhalten müsste. Doch es ist so: Die Partei ist personell ausgezuzzelt wie eine Weißwurst um zwölf. Dennoch: Trotz der schlechten Lage hat Müntefering eine Chance. Viele Genossen glauben an ihn. Ein Vertrauensvorschuss, mit dem sich wuchern lässt. Allerdings kann das Wunder nur gelingen, wenn er sich nicht bloß als Vollstrecker der Agenda versteht. Müntefering muss die Balance (wieder) finden. Die Balance zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen Zuckerbrot und Peitsche, zwischen klassischer SPD-Gerechtigkeitspolitik und "alternativloser" Agenda-Politik. Nur wenn er die Kluft schließen kann, die sich zwischen den Traditionalisten und Modernisierern, zwischen den emotionalen Linken und den kühlen "Netzwerkern" gebildet hat, er also "integrativ" wirkt, hat die SPD in ihrer bisherigen Struktur eine Zukunft. Am Sonntag wird nun also wieder getrennt, was nie richtig zusammen gewachsen war: Schröder und der SPD-Vorsitz. Ob sich noch weitere Trennungen ergeben, Abspaltungen der Frustrierten etwa zu einer neuen Linkspartei, ist ungewiss.

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