Macht und Ohnmacht

Selten ist eine Fernsehsendung, in der Politiker auftreten, im Vorfeld so hochgejazzt worden. Der Kanzler bei "Wetten dass!?", die Schnatter-Runden bei Christiansen, Beckmann oder Kerner – längst alltäglich und meist zum Gähnen langweilig.

Selten ist eine Fernsehsendung, in der Politiker auftreten, im Vorfeld so hochgejazzt worden. Der Kanzler bei "Wetten dass!?", die Schnatter-Runden bei Christiansen, Beckmann oder Kerner – längst alltäglich und meist zum Gähnen langweilig. Neu und ungewöhnlich: die inszenierte Götterdämmerung eines Star-Politikers vor laufenden Kameras, das Live-Verhör des deutschen Außenministers Joseph Martin Fischer im Untersuchungsausschuss zur Visa-Affäre. Vordergründig geht es um die Aufklärung einer ziemlich undurchsichtigen Geschichte, um Erlasse und Vermerke, um das Graubrot einer Behörde und um die Verantwortung des Chefs. Tatsächlich hängt vom Ausgang des Spektakels womöglich das Schicksal der rot-grünen Koalition ab. Joschka Fischer ist angeschlagen, er taumelt zwischen Macht und Ohnmacht. Den Rang als beliebtester deutscher Politiker hat er eingebüßt, die Aura des Unantastbaren verloren. Und nun das: eine Affäre weit unter seinem Niveau. Kleckerkram, Peanuts, Gedöns. Anfangs tat der ehemalige Revoluzzer so, als stünde er über den Dingen. Inzwischen hat er begriffen, dass es ihm ergehen könnte wie vielen Großkopferten, die an Macht und Ämtern klebten und ob der eigenen aufgeblasenen Wichtigkeit den Blick für die Wirklichkeit verloren. Die Visa-Show entscheidet: Rettung oder Untergang. Das Regierungslager vertraut darauf, dass der brillante Staatsschauspieler Fischer sein Tribunal der Lächerlichkeit preisgibt. Die Opposition hofft, dass Fischer zappeln wird wie eine Wespe im Orangensaft, dass es gelingt, die Wahrheit ans Licht zu zerren – auf dass der einst souveräne Außenminister zu Staub zerfalle wie ein Vampir beim ersten Sonnenstrahl. Absurdes Theater oder Dokumentarspiel – alles hängt davon ab, wie Fischer seine Rolle anlegt. Vielleicht so, wie er sich am liebsten stilisiert: als Geo-Stratege und Weltenretter. Mit knarzender Stimme und Leichenbittermiene, so erhaben und weise, als würde er sich ausschließlich von tausend Jahre alten Eiern ernähren. Oder setzt er die Maske des armen Büßers auf? Bescheiden, zurückhaltend, ohne diesen Ausdruck der Verachtung, mit dem er all jene zu strafen pflegt, die ihm nicht das Wasser reichen können? Bahnbrechende Erkenntnisse über Verfehlungen Fischers sind nicht zu erwarten. Wohl aber ein Lehrstück über den Zustand der Fernsehdemokratie. Was ist Schein, was ist Sein? Wie glaubwürdig, wie authentisch sind Politiker? Ist denen "da oben" überhaupt zu trauen? Oder bestätigt sich der Verdacht, dass sie den Part des gutmenschelnden Volksvertreters nur spielen, um ihre Macht zu zementieren? Sicher ist: Immer häufiger zählt nicht der Inhalt, sondern die Verpackung. Ein genialer Staatsmann wie Otto von Bismarck wäre im Medienzeitalter wahrscheinlich nie Kanzler geworden. Mit seiner piepsigen Stimme hätte er es allenfalls zur Witzfigur in einer Comedy-Show gebracht. p.reinhart@volksfreund.de

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