Merkel bleibt sich treu

Angela Merkel bleibt sich treu. In ihrer Regierungserklärung vor neun Monaten hatte die Bundeskanzlerin eine Politik der kleinen Schritte angekündigt. Und seit dem ersten großen Presseauftritt nach ihrem Sommerurlaub gestern in Berlin deutet nichts darauf hin, dass sich daran etwas ändern könnte.

Wer auch nur den Hauch einer spektakulären Ankündigung oder gar eine Botschaft erwartet hatte, wurde eines Schlechteren belehrt. Weiter so Deutschland, weiter so große Koalition, lautet Merkels Devise. Ein heikles Unterfangen. Natürlich muss die Kanzlerin schon von Berufs wegen Gelassenheit ausstrahlen. Dass sie daran offenbar auch mit innerer Grundüberzeugung festhält, ist allerdings erstaunlich. Die schwarz-rote Koalition erweckt derzeit nicht gerade den Eindruck eines gedeihlichen Zusammenwirkens. In der Union überschlugen sich in den letzten Wochen die Ideen für weitere soziale Einschnitte. Mal betrafen sie die Witwen, ein anderes Mal die Bausparer, ein weiteres Mal waren die Kinder arbeitsloser Eltern dran. Verglichen damit hat die SPD in letzter Zeit eine geradezu beispielhafte Disziplin an den Tag gelegt, wenn man von den urlaubsreifen Irritationen eines Peer Steinbrück einmal absieht. Weder Profilierungsdrang noch beredtes Schweigen konnten freilich das Übel beseitigen: Im Ansehen der Wähler sind Schwarz und Rot gleichermaßen dort angelangt, wo Rot-Grün aufgehört hatte. Und Angela Merkel? Sie ließ die Dinge einfach treiben. Selbst als die Debatte über den deutschen Beitrag zu einer Friedensmission im Nahen Osten kräftig an Fahrt gewann, durfte die Nation über die Haltung der Kanzlerin rätseln. Politische Führungskraft sieht anders aus. Bleibt auf der Haben-Seite die überraschend gute Wirtschaftskonjunktur. Hier war Merkel so ehrlich, als zentrale Ursache die positiven Auswirkungen der einst hoch umstrittenen Agenda 2010 ihres Amtsvorgängers Gerhard Schröder anzuführen. Das hat dem sozialdemokratischen Koalitionspartner zweifellos gut getan. In der Union dürfte jedoch die Nervosität über diese Kanzlerin nicht kleiner geworden sein. Zumal der ökonomische Aufschwung ein scheues Reh sein kann. Schon in wenigen Monaten tritt die erhöhte Mehrwertsteuer in Kraft, und die Halbierung des Sparerfreibetrages und die Beschneidung der Pendlerpauschale. Darüber hinaus muss sich der Bürger auf eine Gesundheitsreform einstellen, die zahlreiche Umsetzungsschwierigkeiten birgt. Nur eines ist sicher: Die Kassenbeiträge steigen schon ab 2007. Ob die Kanzlerin dann immer noch so gelassen wirkt? Ihr bleibt praktisch keine andere Wahl. Die beste Rückversicherung für ihre Kanzlerschaft ist die große Koalition. Schon deshalb wird Merkel auch künftig mehr moderieren als regieren. nachrichten.red@volksfreund.de

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