Minister und Milchmädchen

Niemand sollte das große Zeter und Mordio anstimmen, wenn man in Zeiten wie diesen auch der alten Dame Justitia unter die Robe schaut, um festzustellen, was sich noch an Muff der letzten 100 Jahre darunter verbirgt.

Der Forderung nach Effizienz und vernünftigem Kosten-Nutzen-Denken darf sich auch das Rechtswesen nicht entziehen - aber nur, so lange die sensible Substanz der Bürgerrechte nicht darunter leidet. Und in dieser Hinsicht verdienen die Reform-Vorschläge der Justizminister eine differenzierte Betrachtung. Falls die Zusammenlegung bislang getrennter Fachgerichte dazu führt, dass man in der Fläche ein paar Häuptlinge weniger braucht und dafür Handlungsspielräume im Abarbeiten der "Kundschaft" gewinnt, wird der rechtsuchende Bürger nichts dagegen haben, ebenso wenig wie gegen die Auslagerung mancher Formalitäten an die Notariate. Und die Sperrung des Instanzenweges für wirkliche Bagatellfälle bringt die Rechtsordnung sicher nicht zum Einsturz. Problematisch wird es bei der "Praxisgebühr" für Gerichte. Im Zivilverfahren trägt derjenige, der es anstößt, das Risiko der Kosten für den Fall einer Niederlage. Das ist "abschreckend" genug. Freilich könnte man darüber nachdenken, ob man bei den prozesslustfördernden Rechtsschutzversicherungen nicht zwingend eine Art Eigenbeteiligung vorschreibt, ähnlich wie bei der Autokasko. Heikel bis gefährlich wird es bei der Abschaffung der Berufung im Strafverfahren. Wer dem Bürger zumuten will, nach nur einer einzigen Beweisaufnahme zu gravierenden Strafen verurteilt zu werden, muss diese einzige Tatsacheninstanz mit außerordentlichem Aufwand betreiben. Die Verfahren werden maßlos aufgebläht, Anwälte fahren alle Tricks auf, um formalrechtliche Revisionsgründe zu schaffen - die bislang gut funktionierenden Amtsgerichte werden explodieren. Dabei haben sie 90 Prozent der Verfahren zügig und unauffällig zu einem erfolgreichen (zumindest: endgültigen) Abschluss gebracht. Da haben die Justizminister eine Milchmädchenrechnung aufgemacht. Gut, dass wenigstens ihr rheinland-pfälzischer Kollege die Grundrechenarten beherrscht. d.lintz@volksfreund.de

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