Noch ein weiter Weg

Verbrechen finden in deutschen Wohnzimmern millionenfach statt. Spätestens wenn der Feierabend anbricht, ziehen die Fernseh-Gangster die Pistolen, drücken oft genug ab, und beim Zuschauer macht sich wohliger Schauer über die spannenden Dinge breit, die auf der Mattscheibe passieren.

Das trübt die Sensibilität für wirkliches Leid. Opferschicksale werden zum Unterhaltungsgegenstand, zum flüchtigen Einzelfall, zur Statistik. Mittlerweile können sich nur noch wenige vorstellen, was es heißt, Opfer zu sein. Das macht es allen, die Opfer wurden, noch schwerer. Täter stehen im Zentrum der staatlichen Verfahren und im Mittelpunkt der Öffentlichkeit. Um sie allein geht es in den psychologischen Gutachten, in Anklage- und Verteidigungsschriften, in den Medienberichten. Aber die, die vom Strafverfolgungsapparat geschützt werden sollen, bleiben Privatpersonen, in deren Schicksal sich kaum jemand hineindenken und hineinfühlen kann. Wer Opfer wird, hat eben Pech gehabt, mag mancher meinen. Wer so denkt, der übersieht, dass Kriminalität seit Langem nicht mehr als Schicksal oder Bosheit Einzelner gilt, sondern als gesellschaftliches Phänomen. Alle Maßnahmen zur Verbrechensprävention fußen auf diesem Konsens. Nur die Situation des Opfers wurde davon bisher kaum erfasst. Dabei liegt es nahe, die Opfer in diesen Konsens einzubeziehen und anzuerkennen, dass dessen Leiden genauso mit der Gesellschaft zu tun hat wie die Tat. Dann müssen Politik und Gesellschaft dieses Leiden mildern. Es ist an der Zeit, den Status des Opfers grundlegend zu verbessern. Opferschutz und Opferentschädigung müssen einen festen Platz in den Strafverfahren erhalten, und das nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Praxis. Es muss möglich sein, bei jedem halbwegs geständigen Täter und auch bei Kapitalverbrechen auf einen Täter-Opfer-Ausgleich oder eine Wiedergutmachungsleistung hinzuwirken. Es muss realisierbar sein, Geschädigten die Nebenklage und damit die aktive Beteiligung am Strafprozess ohne finanzielle Risiken zu ermöglichen. Dass Entschädigungsgesetze nur auf einige Promille der Opfer angewandt werden können, ist ein unhaltbarer Zustand. Und dass Opferbetreuung in aller Regel Privatinitiativen überlassen bleibt, mag hinzunehmen sein. Aber die Sache dieser Initiativen ist keine Privatsache und verdient mehr öffentliche Anerkennung. Tatverdächtige genießen völlig zu Recht die Fürsorge des Gesetzes und überführte Täter dessen Schutz. Die Opferhilfe besitzt zumindest denselben Rang. Mehr noch: Wenn Strafverfolgung nicht zum Selbstläufer eines staatlichen Apparats pervertieren soll, muss Opferhilfe obenan stehen. Trotz ermutigender Ansätze: bis dahin ist der Weg noch weit. nachrichten.red@volksfreund.de

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