Schlamperei bei Rinder-Ohrmarken

Gemessen an der Gesetzesfülle war die Große Koalition in der ersten Hälfte ihrer regulären Amtszeit bienenfleißig. Immerhin 698 neue Paragraphen-Werke haben Union und SPD seit Herbst 2005 auf den Weg gebracht. Gut gemeint ist aber selten gut gemacht.

Berlin. "Wir haben nicht nur eindeutig zu viele, sondern auch zu schlechte Gesetze", klagt Professor Ulrich Karpen. Im Auftrag der arbeitgeberfinanzierten "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" hat der Hamburger Staatsrechtler die Gesetzesarbeit der Regierung auf ihre handwerklichen Qualitäten untersucht. Sein Befund ist erschreckend: 76 Prozent der Gesetze blähen die Bürokratie weiter auf, die Hälfte der Bestimmungen ist sprachlich unverständlich, fast 60 Prozent mussten innerhalb kurzer Zeit nachgebessert werden, und beinahe jedes vierte Paragraphen-Werk (24 Prozent) leidet unter "überkomplexen" Verweisungen auf andere Gesetze. Als besonders krasses Beispiel dafür gilt die "Verordnung zur Durchsetzung von Vorschriften in Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft über die Verbringung von Abfällen". Dort heißt es in Paragraph 1: "Wer entgegen a) Art. 9 Abs. 6 auch in Verbindung mit Art. 35 Abs. 1, Art. 37 Abs.2 Unterabs. 2, Artikel 37 Abs. 5, Artikel 38 Abs. 1, Artikel 40 Abs. 3, Artikel 42 Abs. 1. ohne gültige Zustimmung Abfälle verbringt, handelt ordnungswidrig". Dabei stehen die Regierungsbeamten ohnehin mit Zahlen auf Kriegsfuß: So wurde etwa in der "Viehverkehrs-Ordung" die Höhe der Ohrmarken für Rinder kurzerhand von 68 auf 58 Millimeter nachgebessert. In eine Änderung zur "Rückstands-Höchstmengen-Verordnung" hatten die Gesetzesmacher versehentlich "0,2" statt "0,02" Milligramm pro Kilo eingefügt. "Der Gesetzgeber reagiert auf die selbst entfachte Hektik in der Gesetzgebung mit vielen Änderungsgesetzen", rügt Karpen. Vergleichsweise harmlos, so seine Erkenntnis, ist die Situation noch in Bereichen wie der Landesverteidigung oder dem Auswärtigen Amt. Dafür bricht der Finanzsektor alle traurigen Rekorde: "Hier haben die Bestimmungen eine extrem kurze Halbwertzeit", sagt Karpen. Als geradezu absurdes Beispiel führt er den Paragraphen 3 des Einkommensteuer-Gesetzes ins Feld. Der Passus regelt, welche Einkommen steuerfrei sind. Allein in den vergangenen zehn Jahren ist diese Vorschrift durch zehn Gesetze in 20 Punkten geändert worden. Zur Verbesserung der Gesetzgebung empfiehlt Karpen mehr Kompetenzen für den Normenkontrollrat, der von der Bundesregierung zum Abbau der Bürokratie eingesetzt wurde. In die Prüfungen sollten schon die Gesetzesentwürfe des Bundestages einbezogen werden. Der Hamburger Staatsrechtler will allerdings nicht nur schwarz malen: Wenigstens 84 der neuen 698 Gesetze hätten der Rechtsvereinfachung gedient. Sie beseitigen also überflüssige und veraltete Normen. Bei einer Vorschrift wie dem Versicherungsvertragsgesetz war das freilich auch bitter notwendig — es stammte noch aus dem Jahr 1908.

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