Schrankenloses Europa

Gute Nachrichten aus der Europäischen Union scheinen Seltenheitswert zu haben. Mit dem Kürzel "EU" assoziieren die meisten Menschen Brüssler Bürokratie und Fremdbestimmung. Die ersehnte grenzenlose Freiheit, Kernstück des europäischen Traums, ist auch für ehemalige DDR-Deutsche längst zum Alltag geworden, weshalb kaum noch jemand einen Gedanken daran verschwendet.

Dass die EU seit 2004 mit zwölf Staaten kräftig Zuwachs bekommen hat, spielt im Bewusstsein eher eine untergeordnete Rolle. Doch nun wird die vergrößerte Familie auch ganz praktisch erfahrbar. Seit der vergangenen Nacht gibt es an der deutschen Ost-Grenze keine Schlagbäume mehr. Ein polnischer Bürger, der in Sichtweite zur Ukraine wohnt, kann jetzt bis an den portugiesischen Atlantik reisen, ohne ein einziges Mal den Pass vorzeigen zu müssen. Kurzum, der alte Kontinent rückt weiter zusammen. Und darüber sollten wir uns freuen. Nun liegt es in der Natur des Menschen, bei allem Fortschritt auch die Gefahren zu sehen. Befürchtet wird eine massenhafte Einwanderung auf den ohnehin angespannten deutschen Arbeitsmarkt. Solche Sorgen gab es freilich schon vor 21 Jahren, als die damaligen Billiglohnländer Spanien und Portugal in die EU aufgenommen wurden. Für Abhilfe sorgten Übergangsfristen und eine ökonomische Entwicklung, die schnell zur Angleichung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in den Beitrittsländern führte. Bei unseren osteuropäischen Nachbarn wird es ähnlich sein. Und Deutschland kann davon profitieren. Die neuen Absatzmärkte liegen buchstäblich vor der Haustür. Ohne Schlagbäume lassen sie sich leichter erschließen. Bleibt die Furcht vor einer wachsenden Kriminalität. Auch die ist nicht neu. Dabei wird allerdings vergessen, dass herkömmliche Grenzkontrollen kaum noch gegen das organisierte Verbrechen helfen. Nichts ist leichter zu umgehen als ein Schlagbaum. Nötig ist eine internationale Kooperation der Sicherheitskräfte. Davon zeugt das gestern eröffnete Polizei- und Zollzentrum im deutsch-polnischen Grenzbereich. Perfekte Sicherheit gibt auch das nicht. Wenn sich allerdings selbst ein Wolfgang Schäuble für die Abschaffung der Grenzkontrollen einsetzt, dann sollten Skeptiker darüber ins Grübeln kommen. Dem Bundesinnenminister wird viel politischer Übereifer nachgesagt. Dass er das Thema Sicherheit vernachlässigen würde, ist noch keinem aufgefallen. Ein schrankenloses Europa bringt dann auch zweifellos mehr Chancen als Gefahren mit sich. Der ungarische Schriftsteller György Dalos hat es kürzlich auf den Punkt gebracht: Wenn die Wirtschaft in den neuen Beitrittsländern an Tempo zulege, dann gebe es für die allermeisten ihrer Bewohner auch keinen Grund mehr, gen Westen aufzubrechen. Besonders den Ostdeutschen dürfte das vertraut klingen. Seit vergangener Nacht wird an einem neuen europäischen Kapitel geschrieben. nachrichten.red@volksfreund.de

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