Schröders Odyssee

Nein, der Bundeskanzler ist nicht zu beneiden. Nach den niederschmetternden Niederlagen in Hessen und Niedersachsen segelt er abermals zwischen Scylla und Charybdis, zwischen zwei Gefahren, denen zu entgehen, ausweglos erscheint. Welche Richtung Gerhard Schröder nach seiner Odyssee durch die politischen Gezeiten nun auch wählen wird - es droht weiteres Ungemach. Der klassische sozialdemokratische Weg ist aufgrund der äußeren Umstände verbaut; und der alternative Reformkurs, den er selbst als "modern" bezeichnet, erinnert stark an die Programmatik der politischen Konkurrenz. Schröder steht vor der schier unlösbaren Aufgabe, Feuer und Wasser zu einer friedlichen Koexistenz veranlassen zu müssen. Seine Partei soll sich jetzt mit Rezepten anfreunden, die sie jahrzehntelang mit großer Leidenschaft bekämpft hat. Genau das ist sein Problem: Wenn der Kanzler nun die Politik der Union als der Weisheit letzter Schluss verkaufen will - und nur so sind seine Worte nach dem Wahldebakel zu verstehen -, zerstört er zugleich ein Stück Stolz und Selbstverständnis der Sozialdemokraten, die nach dem abenteuerlichen Zickzackkurs der vergangenen Monate verunsichert und orientierungslos sind. Ohnehin hat Schröder als Parteivorsitzender bislang versagt, wie der Zustand der Partei und die Ergebnisse der Landtagswahlen seit 1999 belegen. Sein Wahlsieg vom Herbst letzten Jahres gehört in eine andere Kategorie, weil er von politischen Sonderlagen und Zufällen begünstigt war. Jetzt ist guter Rat teuer. In Saarbrücken meldet sich immer ungenierter Ex-Parteichef Oskar Lafontaine zu Wort, und er findet zunehmend Gehör, weil er das hohe Lied von der sozialen Gerechtigkeit singt, das die Seelen der Genossen wärmt. Instinktsicher füllt Lafontaine das Vakuum, das Schröder mit seiner Hauruck-Politik gerissen hat. Der Kanzler und sein umtriebiger Superminister Wolfgang Clement werden jedenfalls gute Argumente brauchen, um den grassierenden Unmut in der SPD eindämmen zu können. Und sie werden bald Ergebnisse vorweisen müssen, etwa Kompromisse im Bundesrat, um in der Bevölkerung nicht noch den letzten Rest an Akzeptanz zu verspielen. Eine Chance hat Schröder noch: Arbeitsmarkt- und Sozialreformen, die diesen Namen verdienen, muss er so erklären, dass sie auch verstanden werden. Die bisherige Atemlosigkeit der rot-grünen Vorschläge muss einer Verlässlichkeit weichen, die den Bürgern und der Wirtschaft Vertrauen einflößt. Das Tempo muss raus, damit die Leute die Maßnahmen auch nachvollziehen können und nicht überfordert werden. Wenn Schröder gleichzeitig Standfestigkeit in der Kriegsfrage beweist, sich von der selbstgerechten Supermacht USA und deren europäischen Verbündeten nicht einschüchtern lässt und seine Meinung glaubwürdig auch in internationalen Gremien vertritt, wird sich die angespannte Atmosphäre in Deutschland entkrampfen können. Große Hoffnungen darf Schröder aber nicht hegen, denn sein Schicksal und das der Koalition sind mehr denn je fremdbestimmt: Sein fast schon beschwörender Appell an die Union, "Offenheit und Kompromissfähigkeit zu zeigen", belegt dies eindringlich. Wenn die Opposition ihm nicht - im Interesse des Landes - durch dosierte Kooperation in den wichtigsten Reformschritten zur Seite steht, wird er über kurz oder lang kapitulieren müssen. nachrichten.red@volksfreund.de

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