Spaziergang nach Bagdad?

Geht es nach der offiziellen Stimmungslage in den amerikanischen und britischen Truppen, so könnte man zu der Annahme kommen, dass der Fall Bagdads nur noch wenige Tage entfernt ist. Panzerbrigaden, die ohne großen Widerstand in hohem Tempo gen Norden rollen. Irakische Soldaten, die offenbar oftmals die Kapitulation dem Kampf vorziehen, und äußerst geringe Verluste unter denen, die Saddam Hussein stürzen wollen. Dazu in den ersten 48 Stunden des Krieges ein Verzicht auf die ursprünglich sofort geplante massive Schockwellen-Angriffsstrategie aus der Luft, um irakischen Truppen das Überlaufen zu ermöglichen und um der irakischen Bevölkerung, aber auch den weltweiten Demonstranten zunächst klar zu machen: Wir kämpfen gegen das Regime, aber nicht gegen Zivilisten. Kann sich also das Weiße Haus auf eine "Spazierfahrt" zum Sieg ohne signifikante Opfer-Zahlen einstellen? Nichts ist, darauf weisen Militärhistoriker immer wieder hin, so unberechenbar wie der Verlauf einer kriegerischen Auseinandersetzung. Neu aufgesetzte Schlachtpläne werden fast immer nach dem ersten Schuss verworfen. Auch die Hoffnung Washingtons, den Gegner durch die "Enthauptung" der Führungsspitze geschwächt und demotiviert zu haben, steht aufgrund des noch nicht hundertprozentig geklärten Schicksals von Saddam Hussein und seinen Söhnen auf tönernen Füßen. Ohnehin gab es bereits lange vor Beginn der Feindseligkeiten Erkenntnisse, dass die eigentliche Entscheidung über einen schnellen militärischen Erfolg in den Straßen von Bagdad fallen würde. Dort verlieren die USA und Großbritannien jedoch viele Vorteile, die sie im freien Feld aufgrund der überlegenen Feuerkraft besitzen. Und dort entscheidet sich auch, wie künftig die Weltöffentlichkeit über den Ablauf dieses höchst umstrittenen Waffengangs denken wird. Auch der "große Preis" - sprich die Eliminierung Saddam Husseins - muss erst noch verdient werden. Und über allem schwebt weiter die bange Frage, ob ein in die Enge getriebener Diktator am Ende nicht doch noch den Einsatz aller verfügbaren Waffen befiehlt, die in seinen Arsenalen liegen. Dass er über diese verfügt, daran kann kaum ein Zweifel bestehen, zumal Bagdad die Vereinten Nationen schon über die Existenz jener Scud-Raketen belogen hat, die jetzt zu Beginn der Invasion in Richtung Kuwait abgefeuert wurden. Wenn nun also die US-Militärführung von großen Erfolgen und einem schnellen absehbaren Sieg spricht, dient dies vor allem einem Zweck: Die Moral in den eigenen Reihen hochzuhalten und dem Gegner, der jede Bewegung der Angreifer dank der zeitnahen Berichterstattung der US-Fernsehsender mitverfolgen kann, den Mut zum Widerstand zu rauben. Doch selbst geschickte psychologische Kriegsführung sichert noch keinen Kantersieg auf dem Schlachtfeld. Das Weiße Haus scheint dies bereits zu ahnen - und wies deshalb gestern auffällig auf die Risiken der kommenden Tage und Wochen hin. nachrichten.red@volksfreund.de

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