Spreu und Weizen

Die Fragen, die der Wirtschaftsweise Peter Bofinger aufwirft, bringen das Unbehagen, das die Hartz-Reformen auslösen, auf den entscheidenden Punkt. Es geht nicht um die Frage, ob Hartz IV jemandem Nachteile bringt - das tut jeder Einschnitt ins Sozialsystem.

Es geht um die Frage, ob Hartz IV funktioniert. Der unstrittig richtige Grundgedanke der Reform ist es, dasSystem des Sich-Abfindens mit dem Zustand der Arbeitslosigkeit oder Sozialhilfe-Bedürftigkeit radikal aufzureißen. Sozialhilfe-Empfänger, die zumindest in bescheidenem Rahmen arbeiten können, sollen dazu gedrängt werden, das auch zu tun. Und für Arbeitslose soll es sich wieder spürbar lohnen, sich nachhaltig um einen Job zu bemühen. Beides ist sinnvoll. Denn es erlaubt der Gesellschaft, zu unterscheiden, was zu lange in einen Topf geworfen wurde: Diejenigen, die sich selber helfen können, diejenigen, die die Solidarität der Gemeinschaft wirklich brauchen und diejenigen, die sich selber helfen könnten, aber nicht wollen. Wer nicht bereit ist, eine eigene Leistung zu erbringen, kann sich nicht mehr so leicht in den Nischen eines umfassenden Sozialsystems verstecken - das ist auch im Sinne derer, die real auf dieses System angewiesen sind. So weit die Theorie. Das Problem ist die Praxis. Das Gedankenmodell Hartz IV funktioniert nur dann, wenn derjenige, der sich um Arbeit und Teilhabe ehrlich bemüht, auch solche bekommt. Anders formuliert: Wer die Spreu vom Weizen trennen will, muss auch eine Scheune haben, in der er den Weizen unterbringen kann. Die Bundesregierung ist aber bislang jegliche Perspektive schuldig geblieben, wie das Angebot an Arbeitsplätzen, die es zumindest erlauben, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, vergrößert werden soll. Da gibt es nur das vage Prinzip Hoffnung: Dass, wenn die Arbeit durch den erzeugten Sog nach unten billiger wird, die Unternehmen wieder mehr Mitarbeiter einstellen. Was aber, wenn sich diese Hoffnung als trügerisch erweist? Wenn sinkende Löhne dankend angenommen werden, um den Shareholder Value zu steigern? Wenn wachsende finanzielle Spielräume in den Betrieben für teure Rationalisierungsmaßnahmen genutzt werden, die weiteres Personal einsparen? Wenn Zukunfts-Unsicherheit zu Nachfrage-Rückgang führt? Die Bundesregierung hat die Hartz-Reformen unters Volk geworfen, ohne den geringsten Ansatz einer schlüssigen Antwort auf alle diese Fragen zu liefern. Gelingt es nicht schnell, der Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt ein wachsendes Angebot entgegen zu stellen, dann wird der im Kern sinnvolle Ansatz zu einem Verelendungsprogramm für breite Schichten der Bevölkerung, vor allem im Osten. Hartz zurücknehmen und einfach weiter machen wie bisher? Das ist keine ernsthafte Alternative. Aber "Augen zu und durch" genau so wenig. Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit ist eine Aufgabe, bei der alle Abstriche machen müssen: Die, die keine Arbeit haben; die, die Arbeit haben; die, die Arbeit verteilen. Bei der Vermittlung dieser Erkenntnis ist die Bundesregierung bislang ein Totalausfall. d.lintz@volksfreund.de

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