Stürmische Zeiten

Dieser 13. November war ein Paukenschlag für die Große Koalition. Formal gesehen besteht kein Zusammenhang zwischen dem Blitz-Rücktritt von Vizekanzler Franz Müntefering und den dürftigen Ergebnissen der jüngsten Koalitionsrunde.

Wer um die schreckliche Krankheit seiner Frau weiß, der darf dem Sauerländer durchaus abnehmen, dass allein familiäre Gründe für den überraschenden Schritt ausschlaggebend waren. Gleichwohl ist die zeitliche Verkettung beider Ereignisse von immenser politischer Tragweite. Denn mit Müntefering verliert das großkoalitionäre Bündnis in Berlin gewissermaßen seinen automatischen Stabilisator. Kein anderer Sozialdemokrat hat die Wandlung vom soldatischen Parteipolitiker zum staatstragenden Reformanhänger so überzeugend verkörpert wie Müntefering. Auf keinen anderen Sozialdemokraten konnte sich Angela Merkel so vertrauensvoll stützen wie auf ihn. Vor diesem Hintergrund ist die Statik der Großen Koalition kräftig durcheinander geraten. Wer sich schon immer nach einem frühzeitigen Ende von Schwarz-Rot sehnte, mag sich nun bestärkt fühlen. Allerdings zeugt die pfeilschnelle Personalfindung bei den Genossen von einer politischen Handlungsfähigkeit, die auch schon vor zwei Jahren nach dem verblüffenden Rückzug Münteferings vom SPD-Vorsitz zu beobachten war. Ein Machtvakuum sieht anders aus. Mit Olaf Scholz steht ein durchaus kompetenter Fachmann in den Startlöchern des Arbeitsministeriums. Und dass Frank-Walter Steinmeier in den Rang des Vizekanzlers aufrückt, ist auch keine schlechte Entscheidung. Doch kommt die Große Koalition damit tatsächlich bis zum nächsten regulären Wahltermin? Dafür spricht paradoxerweise die Tatsache, dass die Regierung ihr Regieren praktisch eingestellt hat. Mindestlohn, Arbeitslosengeld, Bahnprivatisierung, "Zwangsverrentung" - schon bei der Koalitionsrunde am vorvergangenen Sonntag waren deutlich mehr Fragen als Antworten geblieben.Mit dem jüngsten Treffen hat sich dieses Missverhältnis nicht wirklich zum Besseren gekehrt. Probleme werden kaum mehr unter sachorientierten Aspekten gewälzt. Wichtiger ist, was wahltaktisch opportun erscheint. Bei der Verlängerung des Arbeitslosengeldes hatte auch die Union innerparteiliche Geister gerufen, die sie einfach nicht mehr los wurde. Somit bestand ein gemeinsames koalitionäres Interesse, das Thema endlich abzuräumen. Beim Mindestlohn in der Postbranche bekam die Union dagegen kalte Füße. Ihr dämmerte spät, dass sie mit einem Ja einen Domino-Effekt auslösen würde, so wie es Franz Müntefering längst vorhergesagt hatte. Auf seiner Mindestlohn-Liste fanden sich noch zahlreiche weitere Branchen. Nun hat das ungelöste Problem beste Chancen, zum Wahlkampfschlager der SPD zu werden. Und das wiederum kommt den Genossen nicht ungelegen. So bleibt die Erkenntnis dieses turbulenten Dienstags, dass der Großen Koalition noch stürmische Zeiten bevorstehen. Mangels rechnerischer Machtalternativen ist ein Bruch aber kaum zu erwarten. Union und SPD werden weiter wursteln. Nur das Getöse darum wird zunehmen. nachrichten.red@volksfreund.de

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