Theater mit Buchstaben

Schlimmer kann es eigentlich nicht mehr kommen. Wer künftig in Ulm beim Diktat eine Fünf kassiert, weil er die "FAZ" liest und deren Rechtschreibung beachtet, muss nur die Donau überqueren und in Neu-Ulm zur Schule gehen.

Dort befindet er sich auf bayerischem Hoheitsgebiet. Da gilt die alte Rechtschreibung, die auch die Frankfurter Allgemeine praktiziert, vorläufig weiter. Die meisten Schüler allerdings werden zu Geiseln der orthografischen Kleinstaaterei. Und zu Opfern einer Entwicklung, die wie keine anderere deutlich macht, wie es um die Reformfähigkeit des Landes wirklich steht. Es schwingt allerlei unterschwellig mit, wenn in Deutschland von der Rechtschreibeform die Rede ist.Der forsche Auftritt der Reformer vom "Institut für deutsche Sprache" löste Mitte der 80-er Jahre prompt den finsteren Verdacht aus, da würde eine kulturlose Allianz aus Alt-Achtundsechzigern und linken Sprachbürokraten die schöne deutsche Sprache verhunzen. Mit konstruierten Beispielsätzen wie "Der keiser saß in einem bot" geriet die Reform Stück für Stück in den Fleischwolf der öffentlichen Diskussion. Aber statt klarer Regelungen produzierte die viele Ausnahmen und noch mehr strittige Fälle. Verständlich, wenn die Bevölkerung jetzt genug hat vom Buchstaben-Theater und einfach so schreibt, wie sie es für richtig hält. Dieses Desaster war abzusehen. Wenn jemand vom Duden redet, aber etwas ganz anderes meint, zum Beispiel Kulturpolitik, dann sind auch die echten Kompromissmöglichkeiten sehr begrenzt. Da sollte jeder Beteiligte erst einmal sagen, was er wirklich will. Und für alle, die die neuen Regeln noch nicht gelernt haben, gibt es eine kleine Genugtuung: Mit Ausnahme von ein paar verstreuten Experten beherrscht niemand die deutsche Rechtschreibung perfekt - die neue ebenso wenig wie die alte. m.moeller@volksfreund.de

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