Unbequeme Wahrheiten

So was aber auch! Erst erdreistet sich der Bundespräsident, unterschiedliche Lebensbedingungen im Land festzustellen, also eine Binsenweisheit unter das Volk zu streuen, und jetzt das. Der Bundeskanzler macht dicke Backen und spricht aus, was ohnehin jeder weiß.

Gerhard Schröder beklagt die Mitnahme-Mentalität der Deutschen, die bis weit in die Mittelschicht hineinrage. Kritikwürdig an dieser Aussage ist allenfalls, dass sie die tatsächliche Lage nur verkürzt wiedergibt. Kassieren ist in diesem Land nicht nur ein Volkssport bei den unteren und mittleren Einkommen, sondern auch bei Firmen, Managern, Politikern, Neu- und Superreichen. Jeder tut's nach seinen Möglichkeiten. Das Bibelwort, wonach Geben seliger ist denn Nehmen, hat in allen Gesellschaftsgruppen mit Blick auf den Staat ausgedient. Der neue Slogan lautet: Jedem das Seine, mir das Meiste. Zugegeben, das trifft nicht auf 80 Millionen Deutsche zu, aber kaum jemand in diesem Land zahlt mehr Steuern, als es die Gesetze zwingend erfordern. Und die zahlreichen Schlupflöcher werden von jedem genutzt, von dem einen mehr, von dem anderen weniger. Kennen Sie jemanden, der nicht alles versucht, um an eine der zahlreichen staatlichen Leistungen oder Vergünstigungen zu kommen, ob er sie nun braucht oder nicht? Ach, einen kennen Sie? Na immerhin, sehr viele von dieser Sorte Mensch gibt's in Deutschland nämlich nicht mehr. Wer sie sucht, findet sie am ehesten bei der älteren Generation im ländlichen Raum, die sich mit zum Teil sehr kleinen Renten über Wasser zu halten versucht. Ansonsten kassiert fast jeder von uns, wenn es die Gesetze hergeben - und in vielen Fällen weit darüber hinaus. Anschließend beklagen alle wortreich die Höhe von Steuern und Abgaben. Das hat Schröder gemeint, nichts anderes hat er gesagt. Genau das sollte der Kanzler viel öfter tun: unbequeme Wahrheiten sagen. d.schwickerath@volksfreund.de

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