Veränderte Tonart

Ausgerechnet 60 Jahre nach Kriegsende notiert der Verfassungsschutzbericht ein Erstarken des Rechtsextremismus in Deutschland.

Ausgerechnet 60 Jahre nach Kriegsende notiert der Verfassungsschutzbericht ein Erstarken des Rechtsextremismus in Deutschland. Kaum zu glauben: Nach einer monatelangen Erinnerungsorgie, die jedem halbwegs aufnahmebereiten Menschen noch einmal plastisch die Katastrophe vor Augen geführt hat, in die der Nazi-Wahn die halbe Welt gestürzt hat, melden die Verfassungsschützer einen Trend zum Neonazismus. Wer in den letzten Monaten genau hinhörte, den kann die Analyse der Experten freilich nicht verwundern. Die Tonart am rechten Rand hat sich verändert. Jahrelang haben sich Parteien wie die NPD alle erdenkliche Mühe gegeben, um zumindest verbal eine Abgrenzung zu Neonazis einzuhalten. Reaktionäres Gedankengut wurde in demokratische Floskeln verpackt, ein offenes Bekenntnis zur Kontinuität mit dem Dritten Reich war nie zu hören. Wenn jetzt rechte Bannerträger vom "großen Staatsmann Hitler" faseln, wenn sie bei Kundgebungen den Angriffskrieg auf Russland feiern und neue Dolchstoß-Legenden stricken, dann wirkt das schockierend. Aber es hat den Vorteil, dass man sich mit Dummheit und Geschichtslosigkeit leichter auseinandersetzen kann, wenn sie nicht verbrämt daherkommt. Auch deshalb gibt es keinen Grund, mit Panik auf den Verfassungsschutzbericht zu reagieren. Die Demokratie hierzulande wird nicht durch ein paar Wirrköpfe gefährdet. Gefährlich wird es, wenn die Menschen demokratischen Entscheidungsprozessen nicht mehr trauen, wenn sie sich abgehängt und degradiert fühlen. Daran muss die Politik arbeiten. Dann kann man die Entwicklung im rechten Lager genau, aber gelassen weiter beobachten. d.lintz@volksfreund.de

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