Vielen Dank, Mrs. Rowling

Man traut sich ja heute kaum, es zuzugeben: Ich habe noch keine einzige Zeile eines Harry-Potter-Buches gelesen. Und trotzdem sind mir Harry, Ron und Hermine, der weise Professor Dumbledore, der putzige Haus-Elf Dobby, der feige Zauberer Gilderoy Lockhart, der unsympathische Draco Malfoy oder - meine ganz persönliche Favoritin - die "maulende Myrte" so nah wie Familienmitglieder.

Sie begleiten mich als Gesprächsthema bei Frühstück und Abendessen, grüßen vom Fernsehschirm, sind Gegenstand heftiger Experten-Debatten zwischen meinen Kindern und meiner Frau, oder liefern die Fakten für selbst-erfundene Quiz-Spiele, die "Wer wird Millionär" längst in den Schatten stellen. So sieht es weltweit in Millionen von Haushalten aus. Gäbe es einen Nobel-Preis für Familienzusammenführung, Joanne Rowling hätte ihn verdient. In einer Zeit, da der Gesprächsstoff zwischen Generationen immer mehr zur Mangelware wird, liefert ihr Werk einen Integrationsfaktor von Oma bis Enkel, dessen Wert man gar nicht hoch genug einschätzen kann. Und nicht nur das. Die 50 Millionen Euro, die in den nächsten Tagen hierzulande für den fünften Potter-Band ausgegeben werden, sind die beste denkbare Investition gegen die Pisa-Malessen. Kinder lesen nicht, wenn Erwachsene es wollen, sondern wenn sie Lesestoff haben, dem sie nicht widerstehen können. Und jene Art von Sucht, die der kleine Junge mit der runden Brille erzeugt, sollte am besten auf Rezept verordnet werden. In der begründeten Hoffnung, dass sie als Einstiegsdroge in die Welt der Bücher wirkt. Was wurde nicht alles geunkt, als das Potter-Fieber begann. Schwarze Magie, gewalttätig, viel zu gruselig für Kinder. Als ob die Begegnung mit Lord Voldemort jemals schrecklicher sein könnte als die von Tom Sawyer und Becky Thatcher mit Indiana-Joe, damals, als wir als Zehnjährige mit Mark Twain die abgelegene Höhle am Mississippi besuchten. Als ob der böseste Horror-Zauber jemals blutiger wäre als Karl Mays akribische Schilderung der Marterpfahl-Zeremonie. Harry Potter ist ein kleines Wunder. Gut gemachte Lektüre, mit einer vertretbaren Moral, die Werte wie Freundschaft, Mut, Selbstvertrauen hochhält, ohne mit dem Zeigefinger zu winken. Klar ist da auch viel Marketing dabei. Aber auch die beste PR könnte es nicht schaffen, siebenjährige Kinder zum Lesen eines 600-seitigen Buches zu bewegen. Vielen Dank, Mrs. Rowling. d.lintz@volksfreund.de

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