Was bleibt ihnen übrig?

Am Ende der Veranstaltung wird aller Voraussicht nach ein klares Votum stehen, das dem Kanzler nützt und seine Reformansätze stützt. Wenn die Sozialdemokraten am Sonntag auf ihrem Sonderparteitag die Agenda 2010 absegnen, woran kaum zu zweifeln ist, werden sie dies aber mit der Faust in der Tasche tun. Sie stimmen mehrheitlich nicht aus der Überzeugung zu, dass die geplanten Maßnahmen den Weg aus der wirtschaftlichen, staatlichen und gesellschaftlichen Misere weisen, sondern aus nackter Not. Den Genossen bleibt auch nichts anderes übrig: Wenn sie sich verweigern, geht Kapitän Schröder von Bord. Dann wäre die einst so stolze, 140 Jahre alte Partei (vollends) kopflos. Eine attraktive Alternative für Gerhard Schröder ist nämlich nicht in Sicht. Auch der Vorsitzende glaubt, keine andere Wahl zu haben, als die Partei zu ihrem Glück zu zwingen. Das Land steckt in einer lähmenden Rezession, die Staatskassen sind leer, und der Zustand der Partei ist erbarmungswürdig. Bundesweit nur noch 25 Prozent Sympathisanten, seit Jahresbeginn 20 000 Parteiaustritte, rot-grünes Gewürge in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein, schlechte Stimmung in fast allen Landesverbänden, vor allem in Bayern, wo im Herbst gewählt wird - und wo die chancenlose SPD nicht mal als Sparringspartner taugt. Schlimmer geht's nimmer. Schröder will also zeigen, wo es lang geht. Er versteht seine Agenda als Befreiungsschlag. Die grobe Richtung, wird ihm allgemein bescheinigt, ist richtig. Freilich reichen die Vorschläge - und in diesem Punkt haben seine Kritiker recht - bei weitem nicht aus. Das Wegschnippeln sozialer Leistungen allein schafft keine Arbeitsplätze, und der Job-Mangel stellt schließlich das Kernproblem dar. Gewiss muss "alles auf den Prüfstand", wie die Phrasen-Formel lautet, aber wichtiger als diese ständige Beschwörung ist eine tatsächliche Realisierung der Forderung. Schröder und seine Mitstreiter würden an Glaubwürdigkeit gewinnen, wenn sie nicht predigerhaft "neues Denken" und einen "Mentalitätswechsel" anmahnen würden, sondern mit gutem Beispiel voran gingen. Klassisches Beispiel Rente: Nicht der Normalbürger ist hier überversorgt, sondern der Volksvertreter selbst. Erst wenn auch die Weintrinker in den oberen Etagen von Politik und Wirtschaft umschwenken, wächst die Bereitschaft der Wassertrinker zur Genügsamkeit. Und eben weil das Thema so symbolbehaftet ist, bleibt die "soziale Gerechtigkeit" auf der Agenda. Die Flut entsprechender Anträge aus den Parteigliederungen belegt dies eindrucksvoll. Im übrigen ist schwer nachvollziehbar, warum die SPD-Führung mit den Kritikern des neuen Kurses hadert. Schröder sollte froh sein, dass die Diskussion und damit die Partei lebendig bleibt. Ein erweiterter Blickwinkel fördert schließlich die Einsichtsfähigkeit und kann helfen, erstarrte Denkstrukturen aufzubrechen. "Mut zur Veränderung" heißt der Titel des Leitantrags. Die SPD ist im Begriffe, sich zu verändern und die Realitäten zur Kenntnis zu nehmen. Dabei wird sie den schmerzhaften Spagat zwischen ihren traditionellen Wertvorstellungen und den objektiven Erfordernissen aushalten müssen. Wenn ihr das gelingt, kann sie sogar gestärkt aus diesem historischen Prozess hervorgehen. nachrichten.red@volksfreund.de

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